RICHARD BOORBERG VERLAG

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15.02.2022
Bundesgerichtshof, Urteil vom 15.02.2022, VI ZR 937/20

BGH verwirft „taggenaue Berechnung“ beim Schmerzensgeld

  

Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers, entschied der Bundesgerichtshof (BGH). Damit verwarf er die sog. taggenaue Berechnung beim Schmerzensgeld.

Ein Mann war bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden. Er verbrachte innerhalb von zwei Jahren 500 Tage im Krankenhaus. Er verlor seinen rechten Unterarm. Seit dem Unfall ist seine Erwerbsfähigkeit zu mindestens 60 Prozent gemindert. Dass Fahrer, Halter und Kfz-Versicherung zahlen müssen, stand außer Streit.

Gericht wendet „taggenaue Berechnung“ an

Das Landgericht Darmstadt sprach dem Mann ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 € zu. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) verurteilte die Beklagten auf die Berufung des Mannes hin zur Zahlung von insgesamt 200.000 €. Das OLG wandte dafür die sog. taggenaue Berechnung an. Nach dieser Methode ergibt sich die Höhe des Schmerzensgeldes in einem ersten Rechenschritt unabhängig von der konkreten Verletzung und den damit individuell einhergehenden Schmerzen. Hier werden bloß die Tagessätze zusammengerechnet, gestaffelt nach der Behandlungsphase (Intensivstation, Normalstation, stationäre Reha-Maßnahme, ambulante Behandlung zuhause, Dauerschaden) und der damit regelmäßig einhergehenden Lebensbeeinträchtigung.

OLG legt Behandlungsstufen fest

Die OLG-Richter setzten die Behandlungsstufen auf 150 € (Intensivstation), 100 € (Normalstation), 60 € (stationäre Reha) und 40 € bei 100%Grad der Schädigungsfolgen an. Dabei gingen sie von bestimmten Prozentsätzen eines durchschnittlichen Einkommens aus.

Auf der zweiten Berechnungsstufe können dann Zu- und Abschläge – je nach Schwere des Falles – vorgenommen werden. Da der Mann aus Sicht des Gerichts erhebliche Vorerkrankungen hatte, zogen die Richter Kosten von dem durch die „taggenaue Berechnung“ ermittelten Betrag ab. Das Gericht unterließ es, den Betrag des Schmerzensgeldes bei Dauerschäden zu erhöhen, wie bei der Berechnungsmethode grundsätzlich vorgesehen.

OLG muss erneut entscheiden

Der BGH hob das Urteil des OLG auf. Das Gericht muss erneut über die Höhe des Schmerzensgeldanspruchs entscheiden. Maßgebend für die Höhe seien im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei seien in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung sei eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen, die sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lasse, so die BGH-Richter.

Rechenmethode unzureichend

Dem sei das OLG mit der Rechenmethode nicht gerecht geworden. Die starre Betrachtung der Tage, die der Mann auf der Normalstation des Krankenhauses verbracht habe und die er nach seiner Lebenserwartung mit der dauerhaften Einschränkung voraussichtlich noch werde leben müssen, lasse wichtige Umstände seines Falles außer Betracht.

Individuelles Leid nicht berücksichtigt

So ließen die Richter am OLG unbeachtet, welche Verletzungen der Mann durch den Unfall davongetragen habe, wie die Verletzungen behandelt worden seien und welches individuelle Leid bei ihm ausgelöst worden sei. Gleiches gelte für die Einschränkungen in seiner zukünftigen individuellen Lebensführung. Und auch, dass die Richter an die statistische Größe des durchschnittlichen Einkommens bei der Berechnung anknüpften, trage der notwendigen Orientierung an der gerade individuell zu ermittelnden Lebensbeeinträchtigung des Geschädigten nicht hinreichend Rechnung. Das Berufungsgericht muss also erneut über die Schmerzensgeld-Höhe entscheiden.

Autoren:
Anna-Kristina Bückmann