RICHARD BOORBERG VERLAG

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29.09.2021
BGH, Urteil vom 29.09.2021, VIII ZR 111/20

Abgasskandal: Rücktritt ohne Fristsetzung bedarf genauerer Überprüfung

  

Bei vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeugen kann ein sofortiger Rücktritt – ohne vorherige Fristsetzung – nicht ohne weiteres angenommen werden. Zu prüfen ist, ob die Fahrzeughändlerin als Verkäuferin zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses Kenntnis von der unzulässigen Abschalteinrichtung hatte. Zudem hat sich der BGH mit der Frage befasst, ob sich das von VW entwickelte Software-Update ohne anderweitige negative Folgen für das Fahrzeug zur Mangelbeseitigung eigne.

Ein Mann erwarb am 2. Februar 2015 bei einer Fahrzeughändlerin einen Neuwagen Skoda Yeti 2,0 TDI zum Preis von 35.500,01 €. Das Fahrzeug war mit einem von der Volkswagen AG hergestellten Dieselmotor des Typs EA 189 ausgestattet. Es verfügte über eine Abschalteinrichtung, die erkannte, dass das Fahrzeug sich auf einem Prüfstand zur Messung der maßgeblichen Werte für eine Typgenehmigung befand. In diesem Fahrzyklus leitete die Abschalteinrichtung eine höhere Abgasrückführungsrate und einen geringeren Stickoxidausstoß als im Normalbetrieb ein. Im Herbst 2015 wurde diese Vorgehensweise öffentlich bekannt.

Die Volkswagen AG entwickelte für den Motor des Typs EA 189 ein Software-Update, das den Stickoxidausstoß auf das zulässige Maß verringern sollte. Die zuständige Vehicle Certification Agency (VCA) bestätigte, dass mit dem Update der Ablauf vorschriftsmäßig erfolgt und gab die Software frei. Entgegen der Empfehlung der Volkswagen AG ließ der Mann die Software nicht aufspielen, denn er befürchtete negative Folgen für sein Fahrzeug.

Verkäuferin verweist zur Mängelbeseitigung auf Software-Update

Am 4. Oktober 2017 erklärte der Mann mittels Anwaltsschreiben den Rücktritt vom Kaufvertrag und setzte – zur Rücknahme des Fahrzeugs, nicht zur Nachbesserung – eine Frist zum 18. Oktober 2017. Die Händlerin verweigerte mit Verweis auf das von der zuständigen Behörde freigegebene Software-Update die Rückabwicklung des Vertrags.

Vorinstanzen: Fristsetzung entbehrlich

Die Vorinstanzen sprachen dem Mann einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich gezogener Nutzungen Zug-um-Zug gegen Herausgabe und Übereignung des streitgegenständlichen Wagens überwiegend zu. Insbesondere sei die unterbliebene Frist zur Nacherfüllung nach § 323 Abs. Nr. 3 und § 440 BGB entbehrlich gewesen. Danach bedürfe es der Fristsetzung nicht, wenn die dem Käufer zustehende Art der Nacherfüllung unzumutbar sei. Eine Nachbesserung durch das Aufspielen der Software sei nicht zumutbar, weil der Mann gehalten sei, sich auf das Zutun der Volkswagen AG zu verlassen, obwohl der Mangel durch ihr arglistiges Verhalten erst entstanden sei. Ob sich das Software-Update zur Beseitigung des Mangels ohne andere Nachteile für das Fahrzeug (höherer Verbrauch, kürzere Lebensdauer des Fahrzeugs, erhöhter Verschleiß, verminderte Leistung, schlechtere Emissionen) eigne, könne mangels konkreter Angaben seitens der Parteien gerichtlich nicht überprüft werden. Dennoch könne nach allgemeiner Lebenserfahrung davon ausgegangen werden, dass die Volkswagen AG nicht ohne Not zu „illegalen Mitteln“ gegriffen hätte, wenn der gewünschte Effekt auch ohne anderweitige Nachteile hätte erzielt werden können.

BGH: Vor Rücktritt gilt das Recht zur zweiten Andienung

Die von der Fahrzeughändlerin eingelegte Revision hatte Erfolg.1 Der BGH urteilte, dass rechtsfehlerhaft die Entbehrlichkeit der Fristsetzung angenommen worden war und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück. Es habe in der vorliegenden Fallgestaltung weitergehender Prüfung und sachverständiger Feststellungen durch das Tatgericht bedurft.

Ausnahmen von diesem Grundsatz sind eng gefasst

Grundsätzlich könne zwar eine Unzumutbarkeit der Fristsetzung nach § 323 Abs. 2 Nr. 3 und § 440 BGB angenommen werden, wenn der Verkäufer einen ihm bekannten Mangel dem Käufer arglistig verschwiegen habe. Denn hierdurch entfalle regelmäßig die zur Nacherfüllung erforderliche Vertrauensgrundlage.

Keine Frist, wenn Vertrauensgrundlage gestört

Das Berufungsgericht beachte aber nicht hinreichend, dass sich diese Grundsätze nicht ohne weiteres auf die vorliegende Konstellation übertragen lassen. Denn es sei nicht die Fahrzeughändlerin gewesen, die die unzulässige Abschalteinrichtung in den Verkehr gebracht hat, sondern die Herstellerin. Das Tatgericht habe nicht ausreichend überprüft, ob die Fahrzeughändlerin von diesem Umstand bei Vertragsabschluss Kenntnis gehabt habe oder ob eine Zurechenbarkeit der Kenntnis nach § 278 BGB, § 166 BGB einschlägig gewesen sei.

Berufungsgericht prüfte Störung der Vertrauensgrundlage nur schematisch

Die Vertrauensgrundlage könne darüber hinaus auch dann gestört sein, wenn – wie in diesem Fall – kein Fehlverhalten des Verkäufers selbst vorliegt. Insbesondere sei dies dann der Fall, wenn der Mangel auf ein arglistiges Verhalten der Herstellerin zurückzuführen sei und der Verkäufer zur Mangelbehebung nur eine von der Herstellerin ausgehende Nachbesserung anbietet. Grundsätzlich sei zwar eine solche Störung der Vertrauensgrundlage denkbar, denn das Software- Update wurde von der Herstellerin entwickelt. Das Berufungsgericht hätte dies aber in sorgfältiger Abwägung überprüfen sollen, was nicht erfolgt sei.

Berufen auf Verdacht oder gar Vermutung reicht nicht aus

Jedenfalls scheitere der sofortige Rücktritt des Käufers aber an der Annahme, dass das Software- Update zu anderen nachteiligen Folgen führe. Das Berufungsgericht habe sich rechtsfehlerhaft auf eine auf allgemeine Lebenserfahrungen stützende Vermutung berufen. Es wäre durch entsprechende Feststellungen und ein Sachverständigengutachten zu klären gewesen, ob und in welchem Umfang das Software-Update zu den behaupteten Folgeschäden geführt hätte.

Autoren:
Anna Kristina Bückmann