Mehrere schwer- bis teilweise schwerstbehinderte Menschen, die überwiegend auf Hilfe angewiesen sind, sahen ihre Grundrechte durch eine pandemiebedingte Triage-Situation gefährdet. Bei einer Triage muss bei einer Vielzahl von behandlungsbedürftigen Patienten eine Entscheidung über die Zuteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen getroffen werden. In einem solchen Szenario reichen die medizinischen Ressourcen nicht aus, um alle Betroffenen zu retten. Diese Menschen befürchten, dass sie aufgrund ihrer Behinderung im Krankenhaus bei der Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt werden.
Bislang keine gesetzlichen Vorgaben an Triage
Gesetzliche Vorgaben für die Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen bei einer Triage existieren bislang nicht. Es gibt jedoch mehrere notärztliche Empfehlungen und Leitlinien, die weder allgemein geltend noch rechtlich verbindlich sind. In der Praxis wird häufig auf die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivund Notfallmedizin (DIVI) Bezug genommen.
Nach dieser Empfehlung ist das Hauptziel der Priorisierung, möglichst vielen Patienten eine Teilhabe an der Versorgung zu ermöglichen. Die Kriterien für die Priorisierung orientieren sich dementsprechend an den Erfolgsaussichten der medizinischen Behandlung. Dabei fallen weitere Erkrankungen, die neben der akuten Erkrankung bestehen (sog. Komorbiditäten), sowie der Allgemeinzustand einschließlich einschließlich Gebrechlichkeit ins Gewicht. Zugleich wird aber ausdrücklich klargestellt, dass eine Priorisierung aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen unzulässig ist.
Eilverfahren im August 2020 war erfolglos
Im August 2020 scheiterte das Anliegen im Eilverfahren noch vor dem BVerfG, weil angesichts des derzeitigen Infektionsgeschehens und der intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten eine Triage-Situation nicht wahrscheinlich erschien. Im Hauptsacheverfahren gab das BVerfG nun mit einer Ende Dezember 2021 veröffentlichten Entscheidung den Menschen mit Behinderungen weitestgehend recht.
BVerfG: Gesetzgeber muss tätig werden
Die Richter in Karlsruhe entschieden, dass gesetzliche Vorgaben für den Fall einer Triage geschaffen werden müssen, um eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen auszuschließen. Das Verbot einer Benachteiligung wegen einer Behinderung nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG – eigentlich ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe – verdichte sich in dieser Konstellation zu einer konkreten Handlungspflicht des Staates. In einer Rechtsordnung, die auf die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen ausgerichtet sei, müsse sichergestellt werden, dass die Gesundheit und das Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als überragend wichtige Rechtsgüter geschützt seien.
BVerfG erkennt Diskriminierungsrisiko für Menschen mit Behinderung
Das Gericht stellt zudem anhand sachkundiger Einschätzungen und Stellungnahmen fest, dass bei der Entscheidung über die Zuteilung lebenswichtiger Ressourcen ein Benachteiligungsrisiko für Menschen mit Behinderungen besteht. Bei den komplexen Entscheidungen über Leben oder Tod, die in einer solchen Notlage getroffen werden, würden die Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung sachlich falsch beurteilt und stereotypisiert, sodass es zu Benachteiligungen kommen könne. Die fachlichen Empfehlungen der DIVI räume das dargestellte Benachteiligungsrisiko indes nicht aus. Zwar werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Priorisierung aufgrund einer Behinderung unzulässig ist. Jedoch bezeichne die Empfehlung Komorbiditäten und die Gebrechlichkeit als Indikatoren für eine negative Erfolgsprognose. Bei diesen Faktoren ist nicht ausgeschlossen, dass die Behinderungen nicht pauschal damit in Verbindung gebracht und generell mit schlechteren Genesungsaussichten verbunden werden. Entscheidend könne allein die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit sein.
Konkrete Ausgestaltung kommt dem Gesetzgeber zu
Das BVerfG führt weiter aus, dass dem Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt. Dabei stehe es ihm zu, bestimmte Kriterien für die Zuteilung lebenswichtiger Ressourcen aufzustellen. Dem stehe der aus der Achtung der Menschenwürde abgeleitete Grundsatz, dass Leben und Leben nicht gegeneinander abgewogen werden dürfen, nicht von vornherein entgegen. Andere grundrechtswahrende Mechanismen, wie spezifische Vorgaben zum konkreten Vorgehen (etwa das Mehraugenprinzip) oder zur Aus- und Fortbildung von medizinischem Personal, seien auch denkbar.