Eine Mutter wollte gemeinsam mit ihrem 13- jährigen Sohn aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in die Bundesrepublik Deutschland einreisen. Die beiden nahmen im Oktober 1977 eine Route über die Tschechoslowakei. An der Grenze wurden sie verhaftet. Die Mutter kam in Untersuchungshaft. Der Sohn wurde in ein Kinderheim in der DDR gebracht. Im Januar 1978 wurde die Mutter zu einer Haftstrafe verurteilt. Im Juni wurde sie aus der Haft in der BRD angesiedelt. Erst am 23. Dezember 1978 konnte die Mutter ihren Sohn aus dem Kinderheim abholen und mit ihm in die Bundesrepublik ausreisen.
Ex-Heimkind klagt auf Entschädigung
Das ehemalige Heimkind beantragte im Februar 2014 beim Landgericht Schwerin, ihn nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) zu rehabilitieren. Dies wies das Gericht zurück. Die gegen die Entscheidung eingelegte Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Rostock. Auch seine Anhörungsrüge blieb erfolglos.
BVerfG: „grob verkannt“ – Gerichte müssen von Amts wegen aufklären
Das BVerfG sah die Verfassungsbeschwerde des Mannes als „ganz überwiegend zulässig und begründet“ an. Die Gerichte haben die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Pflicht zur gerichtlichen Aufklärung des Sachverhalts „grob verkannt“. § 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG verpflichtet im Rehabilitierungsverfahren die Gerichte dazu, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Dabei habe das Gericht sämtliche Erkenntnisquellen zu verwenden, die erfahrungsgemäß dazu führen könnten, die Angaben eines Betroffenen zu bestätigen. Komme es dieser Verpflichtung nicht nach, so verweigere es dem Betroffenen die gebotene Überprüfung erheblicher Tatsachen und verfehle damit das gesetzliche Ziel, zur Rehabilitierung politisch (Straf-)Verfolgter die fortdauernde Wirksamkeit von Urteilen der Gerichte oder Entscheidungen der Behörden der ehemaligen DDR zu durchbrechen.
Gerichte haben Heimeinweisung nicht wirksam geprüft
Die Gerichte hätten hier die Einweisung in das Heim nicht wirksam kontrolliert. Es hätten weiterer Aufklärungsbedarf und weitere Aufklärungsmöglichkeiten bestanden, so die Richter in Karlsruhe. Nach verbreiteter obergerichtlicher Rechtsprechungspraxis, die das Oberlandesgericht ersichtlich teile, sei eine Heimeinweisung insbesondere dann rechtsstaatswidrig, wenn die Eltern eines Kindes aus politischen Gründen in Haft waren und die Heimunterbringung erst dadurch erforderlich wurde, dass aufnahmebereite Dritte von den DDR-Behörden übergangen worden seien. Hier sei das OLG nicht den Hinweisen nachgegangen, wonach der in der BRD lebende Halbbruder des Mannes sowie die Großmutter möglicherweise aufnahmebereit gewesen wären.
Auch sei nicht ausreichend geklärt worden, warum der Mann als Kind noch rund ein halbes Jahr im Heim bleiben musste, obwohl seine Eltern bereits in die BRD übergesiedelt waren. Das Gericht gehe von „organisatorisch- bürokratischen Hemmnissen“ aus, ohne dass die hierfür herangezogenen Erkenntnisse dies im Grundsatz und erst recht nicht für die Dauer von sechs Monaten tragfähig stützen könnten.
Willkürverbot verletzt
Daneben habe das OLG das Willkürverbot aus Artikel 3 Abs. 1 GG verletzt. Es lege seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde, ohne dass die hierfür maßgeblichen Sachverhaltsfeststellungen nachvollziehbar seien. „Ist eine Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich und sachlich schlechthin unhaltbar, drängt sich der Schluss auf, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht“ heißt es zur Begründung vom Gericht.
Das OLG habe festgestellt, die Eltern des Beschwerdeführers hätten sich nicht aktiv um dessen Aufnahme außerhalb eines Heims bemüht. Dabei habe der Mann ausführlich und vom Gericht als glaubhaft angesehen vorgetragen, dass seine Mutter aus der Haft heraus Briefe an namentlich benannte Verwandte in der DDR geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten habe. Für organisatorischbürokratische Hemmnisse fänden sich in den Akten keine Anhaltspunkte. Es sei auch nicht nachvollziehbar, warum das OLG Unterhaltsrückstände anführe, dafür, dass der Mann damals länger im Heim bleiben musste.
Anmerkung
Das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz soll in der DDR erlittenes Unrecht entschädigen. Dabei geht es nicht nur um eine Kompensation in Geld. Es geht auch um die Anerkennung des Unrechts, das die Betroffenen unter den Entscheidungen des DDRRegimes erlitten haben. Ende 2019 hat der Gesetzgeber Fristen verlängert und weitere Voraussetzungen herabgesetzt, um Betroffenen den Zugang zu Entschädigungen zu erleichtern.