RICHARD BOORBERG VERLAG

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26.04.2021

  

Umfang der Schutzpflichten im Pflegeheim bei demenzkranken Bewohnern

  

Ein an Demenz erkrankter Pflegeheimbewohner mit erkennbarer Selbstschädigungsgefahr darf nicht in einem im Obergeschoss gelegenen Wohnraum mit leicht zugänglichen und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden (BGH).

Ein Mann lebte in einem Pflegeheim. Er war hochgradig dement und litt unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow- Syndroms sowie unter psychisch-motorischer Unruhe. Er war zudem örtlich, zeitlich und situativ desorientiert. Besondere Betreuung war notwendig wegen Lauftendenz, Selbstgefährdung, nächtlicher Unruhe und Sinnestäuschungen. Der Heimbetreiber brachte den Bewohner in einem Zimmer im dritten Obergeschoss unter, das über zwei große Dachfenster verfügte, die gegen unbeaufsichtigtes Öffnen nicht gesichert waren. Der Abstand zwischen dem Fußboden und den Fenstern betrug 120 cm. Vor den Fenstern befanden sich ein 40 cm hoher Heizkörper sowie in 70 cm Höhe eine Fensterbank. Über beide konnte man gleichsam stufenweise zur Fensteröffnung gelangen. Eines Nachmittags stürzte der Heimbewohner aus einem der Fenster. Er erlitt schwere Verletzungen, an denen er trotz mehrerer Operationen zwei Monate später verstarb.

Seine Witwe und Alleinerbin machte aus übergegangenem Recht die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgelds gegen den Heimbetreiber geltend. Dieser habe notwendige Schutzmaßnahmen zur Verhinderung des Fenstersturzes unterlassen. Es hätten zwingende Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung vorgelegen. Gerade aufgrund der Demenz und der verstärkten, körperlich noch möglichen Lauftendenz stelle die Unterbringung im dritten Obergeschoss in einem Zimmer, dessen Fenster leicht zu öffnen gewesen seien, eine erhebliche Pflichtverletzung des Heimbetreibers dar.

Im Gegensatz zum Landgericht und Oberlandesgericht gab der Bundesgerichtshof1 der Witwe grundsätzlich Recht. Er verwies den Rechtsstreit jedoch zur weiteren Sachverhaltsaufklärung, ggf. durch sachverständige Unterstützung, zurück an das Oberlandesgericht.

Vorschau auf mögliche Gefährdungen erforderlich

Ein Heimbetreiber hat die Pflicht, unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts der ihm anvertrauten Bewohner, diese vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschen. Welchen Inhalt diese Schutzverpflichtung somit hat, kann nicht generell, sondern nur im jeweiligen Einzelfall entschieden werden. Maßgebend ist, so das Gericht, ob wegen der körperlichen und geistigen Verfassung des Pflegebedürftigen vorausschauend ernsthaft damit gerechnet werden muss, dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte.

Selbstschädigungsgefahr

Dementsprechend dürfe bei erkennbarer Selbstschädigungsgefahr ein an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem un kontrollierte und unkalkulierbare Handlungen jederzeit möglich erscheinen, nicht in einem im Obergeschoss gelegenen Wohnraum mit unproblematisch erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden.

Die hierzu von der Vorinstanz getroffenen notwendigen Feststellungen waren nach Auffassung des Bundesgerichtshofs unvollständig und rechtsfehlerhaft. Bei dem Pflegebedürftigen lagen schon zu Beginn seines Aufenthalts im Pflegeheim schwere Demenzerscheinungen vor. Er war in der Vergangenheit aufgrund seiner unkontrollierten Lauftendenzen bereits mehrfach aus dem ihm zugewiesenen Gehwagen herausgeklettert. Hierdurch stellte er eine gewisse, noch vorhandene motorische Geschicklichkeit unter Beweis.

Die leicht zu öffnenden, nicht gesicherten Fenster in seinem Zimmer konnten über die davor befindlichen Heizkörper und das Fensterbrett gleichsam treppenartig erreicht werden. Bei dieser Sachlage konnten unkontrollierte und unkalkulierbare, selbstschädigende Handlungen durch Desorientierung keinesfalls sicher ausgeschlossen werden.

Anmerkung:

Gleichwohl wird nun das neue Verfahren beim Berufungsgericht im Rahmen der gebotenen medizinischen Risikoprognose des gesamten Krankheitsbildes des Bewohners und insbesondere seine durch ausgeprägte Demenzerscheinungen gezeichnete geistige und körperliche Verfassung sorgfältig bewertet werden müssen, ggf. sachverständig beraten. Erst dann kann abschließend und verlässlich beurteilt werden, ob die Unterbringung im dritten Obergeschoss bei leicht zugänglichem, nicht gesichertem Fenster einen Pflichtverstoß des Heimbetreibers darstelle.

Klaus Krohn
Quelle:
Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14. 01. 2021 – III ZR 168/19