Am 23.04.2021 trat durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite ein Maßnahmenbündel zur Eindämmung der Corona- Pandemie in Kraft. Enthalten waren Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie Schulschließungen, die bei Erreichen bestimmter Inzidenzwerte unmittelbar in den jeweils betroffenen Gebieten galten.
Schulschließungen, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen
Die in § 28b Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) geregelten Kontaktbeschränkungen und Ausgangsperren fanden Anwendung, wenn in einem Gebiet an drei aufeinanderfolgenden Tagen ein Sieben-Tage-Inzidenzwert von 100 je 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche überschritten wurde. Sank hingegen dieser Wert an fünf aufeinanderfolgenden Werktagen unter 100, traten diese Maßnahmen wieder außer Kraft. Private Zusammenkünfte waren – mit eng gefassten Ausnahmen – nur gestattet, wenn Angehörige eines Haushalts sich mit einer weiteren Person trafen. Während der Ausgangssperren zwischen 22.00 und 5.00 Uhr durfte man sich nicht außerhalb der Wohnung oder einer Unterkunft aufhalten. Ausgenommen waren zwischen 22.00 Uhr und 24.00 Uhr die Ausübung von körperlicher Bewegung im Freien sowie zu anderen wichtigen Zwecken, wie etwa bei einem Notfall, die Wahrnehmung eines Sorge- oder Umgangsrechts oder die Berufsausübung. Der Präsenzunterricht an allgemein- und fortbildenden Schulen war vollständig untersagt, wenn in einem betroffenen Gebiet an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Sieben-Tages- Inzidenz einen Wert von 165 überschritt. Lag der Wert über 100, durfte der Präsenzunterricht nur zeitlich begrenzt in Form von Wechselunterricht stattfinden. Sank der Wert unter die maßgebliche Schwelle, so traten die Bestimmungen außer Kraft. Dabei konnten die Länder Ausnahmen für Abschlussklassen und Förderschulen treffen.
BVerfG: Maßnahmen waren verhältnismäßig
Die Verfassungsbeschwerden gegen die angegriffenen Maßnahmen blieben allesamt ohne Erfolg. Angesichts der äußersten Gefahrenlage der Pandemie seien die Maßnahmen – trotz ihrer schweren Eingriffsintensität – verhältnismäßig und damit mit dem Grundgesetz vereinbar.
Gefahr für Leib und Leben und Überlastung des Gesundheitssystems sind legitimes Ziel
Hinsichtlich der Kontaktbeschränkungen sahen die Verfassungsrichter das Familiengrundrecht und das Ehegestaltungsgrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG sowie das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG beschnitten. Diese Eingriffe seien jedoch gerechtfertigt. Das Gericht führte hierzu eine sorgfältige Verhältnismäßigkeitsprüfung der Maßnahmen durch und zog Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Gutachten und Stellungnahmen heran. Dabei erkannten die Richter in Karlsruhe zunächst an, dass bei Verabschiedung des Gesetzes eine Gefahrenlage für Leib und Leben sowie die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems bestanden habe und damit ein legitimer Zweck verfolgt worden sei. Weiterhin stehe der mit der Maßnahme verfolgte Zweck auch nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs. Insbesondere wies dazu das Gericht sowohl auf die zeitliche Befristung des Gesetzes als auch auf den dynamisch an der Pandemie ausgerichteten und regional differenzierten Regelungsansatz hin. Damit haben die Maßnahmen lediglich in betroffenen Regionen Wirkung entfalten können und traten – nach Unterschreiten der Schwellenwerte – wieder außer Kraft. Ähnlich beurteilte das Gericht auch die Ausgangssperren. Die Eingriffe in die obengenannten Grundrechte sowie das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG) seien in Anbetracht einer äußersten Gefahrenlage verhältnismäßig und damit in Einklang mit der Verfassung. Hierbei sei das Gesamtschutzkonzept maßgeblich, das gerade nicht einseitig auf den Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems abstelle. Durch die weitreichenden Ausnahmen für Berufsausübung oder zur Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts wurde vielmehr die Eingriffsintensität abgemildert.
In einem gesonderten Beschluss wies das Bundesverfassungsgericht ferner mehrere Verfassungsbeschwerden zum vollständigen oder teilweisen Verbot des Präsenzunterrichts an Schulen zurück.
(Neues) Recht auf schulische Bildung
Hierzu stellte es zunächst einen Eingriff in das neugeschaffene Recht auf schulische Bildung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG fest. Danach haben Kinder und Jugendliche einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten. Berührt durch die Schulschließungen sei hier das Abwehrrecht gegen Maßnahmen, die das Bildungsangebot einer Schule beeinträchtigten, als Ausprägung des Grundrechts auf schulische Bildung.
Diese Eingriffe seien jedoch gerechtfertigt, denn auch hier sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt. Insbesondere wertete das Gericht das Verbot von Präsenzunterricht als schwerwiegend. Dies führe zu Lernrückständen und Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung, vor allem bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien. Auch Schüler an Grundschulen seien stark betroffen, weil der Bildungserfolg maßgeblich von der direkten Interaktion abhänge. Dem würden jedoch Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung in Form von infektionsbedingten Gefahren für Leib und Leben sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gegenüberstehen.
Das dynamische Infektionsgeschehen, die exponentielle Verbreitung und die steigende Anzahl von Intensivpatienten ließen einen Kollaps des Gesundheitssystems befürchten. Zugleich habe – im Vergleich zur derzeitigen Lage – die Impfkampagne gerade erst begonnen.
Bei der Zumutbarkeit dieser Maßnahmen fiele ins Gewicht, dass das Verbot von Präsenzunterricht zeitlich begrenzt war. Zudem habe es eine Einrichtung einer Notbetreuung für berufspflichtige Eltern gegeben, die wegen der Betreuung ihrer Kinder nicht arbeiten konnten. Es habe ferner eine staatliche Entschädigung gegeben, um gegen Einkommenseinbußen abzusichern, und das Krankengeld wurde auf die Fälle erweitert, in denen die Schulen aufgrund der „Bundesnotbremse“ geschlossen waren.