RICHARD BOORBERG VERLAG

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01.10.2023

Interview

„Wir stehen dem Gedanken eines integrierten Bachelors aufgeschlossen gegenüber“

Die Präsidentin des Justizprüfungsamtes (JPA) Baden-Württemberg, Sintje Leßner, im Interview zu den Anforderungen an Examenskandidatinnen und – kandidaten, der Arbeit des JPA sowie Reformen bei juristischen Prüfungen.

Falko Göthel – adobe.stock.com

Die Anforderungen im Jura-Studium sind hoch. Endgültig die Erste juristische Prüfung nicht bestanden haben in den letzten zehn Jahren bis zu 5,8%. Welche Veränderungen oder Reformen werden die Justizprüfungsämter in Zukunft umzusetzen haben, um das Prüfungssystem weiter zu verbessern? Welche Kriterien werden bei der Bewertung von Examensklausuren besonders berücksichtigt – und welche Aspekte kommen im aktuellen Prüfungsgeschehen noch zu kurz? Diese und weitere Fragen beantwortet die Präsidentin des Justizprüfungsamtes (JPA) Baden-Württemberg, Sintje Leßner in diesem Interview.

Die Anforderungen im Jura-Studium sind hoch. Dies spiegelt sich im Niveau der Prüfungen und der Prüfungsergebnisse, die im Vergleich zu anderen Studiengängen deutlich schlechter sind. Warum muss das aus Ihrer Sicht so sein?

Leßner: In den juristischen Staatsexamina gibt es keine Noteninflation, wie in manch anderen Bereichen und das ist auch gut so. Den Prüflingen wäre nicht geholfen, wenn wir pauschal bessere Noten vergeben würden: Bestnoten ohne Bestleistungen sind nichts wert. Wenn plötzlich alle mit „sehr gut“ oder „gut“ abschließen würden, wie soll man dann erkennen, wer wirklich eine besonders gute Leistung erbracht hat? Die Notenskala hat sich seit vielen Jahren bewährt und erlaubt eine hervorragende Differenzierung, gerade auch in den einzelnen Klausuren.

Endgültig die Erste juristische Prüfung nicht bestanden haben in den letzten zehn Jahren bis zu 5,8%

 

Außerdem sollte auch die im Jurastudium vermeintlich so hohe Nichtbestehensquote differenzierter betrachtet werden. Hier geht es insbesondere um die Frage, wie viele Prüflinge die Prüfung endgültig nicht bestanden haben. Da bewegen wir uns in Baden-Württemberg in den letzten zehn Jahren in der Staatsprüfung in der Ersten juristischen Prüfung in einem Bereich zwischen 3,80 % und 5,80 %. In der Zweiten juristischen Staatsprüfung liegt die Quote sogar nur zwischen 1,23 % und 2,85 %. Es ist also wirklich nicht so, dass die Studierenden am Ende des Studiums reihenweise durchs Examen fallen.

Können Sie uns einen Einblick gewähren, was eine gute Aufgabenstellung in den Examensklausuren auszeichnet, so dass eine faire Bewertung gewährleistet ist?

Leßner: Eine gute Aufgabenstellung zeichnet sich zunächst durch einen klar strukturierten Sachverhalt aus, der bestenfalls schon beim ersten Durchlesen vollständig erfasst werden kann. Der Sachverhalt enthält darüber hinaus – teils deutliche, teils auch eher versteckte – Hinweise auf die anzusprechenden Fragestellungen.

Außerdem ermöglicht es eine gute Aufgabenstellung allen Prüflingen, die sich sorgfältig auf die Prüfung vorbereitet haben, zu einer vertretbaren Lösung zu kommen und die Klausur zu bestehen. Sie enthält einfachere Fragestellungen für schwächere Kandidatinnen und Kandidaten ebenso, wie schwierigere Probleme für stärkere Prüflinge. Auf diese Weise kann eine Notendifferenzierung gelingen, die die Notenskala ausschöpft.

Welche Kriterien werden bei der Bewertung von Examensklausuren besonders berücksichtigt – und welche Aspekte kommen im aktuellen Prüfungsgeschehen noch zu kurz?

Leßner: Es kommt hier nicht auf die Kenntnis jedes noch so fernen Meinungsstreits oder der neuesten Rechtsprechung des BGH an. Entscheidend ist vielmehr, dass die Kandidatinnen und Kandidaten den zur Prüfung gestellten Fall einer sorgfältig begründeten und rechtlich vertretbaren Lösung zuführen und
diese überzeugend darstellen. Wo unterschiedliche Meinungen vertreten werden können, weisen wir unsere Prüferinnen und Prüfer darauf hin, dass mit entsprechender Begründung jede Entscheidung akzeptiert werden soll.

Es geht also in den juristischen Staatsexamina nicht um die Wiedergabe auswendig gelernten Wissens, sondern um den Nachweis, dass man einen unbekannten Sachverhalt in einem begrenzten Zeitraum überzeugend lösen kann. Darauf achten unsere Prüferinnen und Prüfer. Das heißt aber natürlich nicht, dass man gewisse Dinge nicht auch einfach wissen muss. Wer etwa von der Sperrwirkung des EBV oder von der Abgrenzung zwischen Raub und räuberischer Erpressung noch nie was gehört hat, wird sich in den Klausuren vermutlich schwertun.

Gibt es Pläne, die psychische Belastung der Prüflinge während des Examens zu reduzieren?

Leßner: Eine gewisse Anspannung vor einer wichtigen Prüfung ist normal und gehört dazu. Angst sollte dagegen nicht herrschen. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass die juristischen Staatsexamina als sehr belastend wahrgenommen werden und wir müssen uns fragen, ob und wie wir diese Belastung senken können. Die Einführung der Universitätsprüfung vor einigen Jahren, die immerhin mit 30 Prozent in die Endnote eingeht, konnte den Druck, den die Studierenden empfinden, offenbar nicht hinreichend mildern.

Weg vom „Alles-oder-Nichts-Charakter“ der Prüfungen

 

Vielleicht könnte man viel von dem – tatsächlichen oder auch gefühlten – Druck nehmen, wenn die Staatsexamina nicht
mehr den „Alles-oder-nichts-Charakter“ hätten. Die Einführung eines integrierten Bachelors könnte ein Weg sein, den immer mehr juristische Fakultäten beschreiten und dem auch wir uns nicht verschließen. Die Prüflinge hätten dann die Gewissheit, dass sie selbst im Fall des endgültigen Nichtbestehens der Staatsprüfung einen Abschluss in der Tasche hätten. Das würden viele Studierende sicherlich als Erleichterung empfinden. Die Entscheidung über die Einführung des integrierten Bachelors liegt aber letztlich bei den Universitäten. Wir stehen dem Gedanken aufgeschlossen gegenüber und begleiten unsere Fakultäten auf diesem Weg gern.

Auf welche Weise könnte Prüflingen, die gehandicapt sind oder massive Prüfungsangst haben, dennoch das Bestehen der Prüfung erleichtert werden?

Leßner: Prüflinge mit körperlichen Beeinträchtigungen können einen sogenannten Nachteilsausgleich beantragen. Hierfür ist die Vorlage eines ärztlichen Attests notwendig. Wir prüfen dann, ob und auf welche Weise eine Beeinträchtigung auszugleichen ist. Sollte ein Ausgleich angezeigt sein, wird dieser regelmäßig in Form von Schreibpausen oder Schreibzeitverlängerungen gewährt.

Bei besonders gravierenden Beeinträchtigungen kommen auch andere Maßnahmen, wie etwa eine Schreibhilfe oder ein eigener Prüfungsraum in Betracht. Die Entscheidung wird in jedem Einzelfall individuell getroffen. Ich möchte aber betonen, dass es dabei nicht um Prüfungserleichterungen geht, sondern um einen Ausgleich für eine körperliche Beeinträchtigung und damit um die Herstellung der Chancengleichheit. Prüflinge mit Nachteilsausgleich schreiben dieselben Klausuren wie Prüflinge ohne Nachteilsausgleich. Auch bei der Korrektur werden dieselben Maßstäbe angelegt, weil unsere Prüfer nicht wissen, ob ein Prüfling einen Nachteilsausgleich erhalten hat.

Nach welchen Kriterien werden Prüfer:innen und Korrektor:innen im Bereich Ihres Justizprüfungsamtes ausgesucht und wie wird sichergestellt, dass die Prüfende über aktuelles Fachwissen, Kenntnis relevanter Entwicklungen in den verschiedenen Rechtsgebieten sowie über die pädagogische
Eignung zur Abnahme von Prüfungen verfügen?

Leßner: Wer zur Prüferin oder zum Prüfer bestellt werden kann, bestimmt § 3 JAG. In der Ersten juristischen Prüfung sind dies in erster Linie die Hochschullehrer des Rechts an den Universitäten. Daneben werden - wie auch in der Zweiten juristischen Staatsprüfung - besonders qualifizierte Personen mit der Befähigung zum Richteramt als Prüfer berufen. Diese Prüferinnen und Prüfer, die überwiegend aus der Justiz und Verwaltungspraxis stammen, halten sich durch unser umfangreiches Fortbildungsangebot „up to date“. Darüber hinaus bietet das Landesjustizprüfungsamt auch regelmäßig Prüferseminare an, in denen neue Prüferinnen und Prüfer mit den Besonderheiten des Prüfungsrechts und der Prüferpraxis vertraut gemacht werden.

In welchem Umfang spielen Beschwerden über die Durchführung oder Bewertung der juristischen Staatsexamina im Alltag des JPA eine Rolle – und wie gehen Sie damit um?

Leßner: Machen die Prüflinge Verfahrensfehler geltend, werden diese durch das Landesjustizprüfungsamt überprüft. Wenn sich Prüflinge gegen die Bewertung ihrer Leistungen wenden, leiten wir die Einwände zunächst an die Prüferinnen und Prüfer weiter und fordern diese zur Stellungnahme auf. Im Rahmen dieses sogenannten Überdenkungsverfahrens entscheiden die Prüferinnen und Prüfer dann darüber, ob sie aufgrund der durch den Prüfling vorgetragenen Einwände an ihrer bisherigen Bewertung festhalten oder diese ändern und begründen ihre Entscheidung.

Das Landesjustizprüfungsamt überprüft seinerseits lediglich die Rechtmäßigkeit der Bewertungen, ob also „echte“ Bewertungsfehler vorliegen. Ob eine Lösung überzeugend ist oder wie stark sich etwa das Fehlen einer Anspruchsgrundlage auswirkt, unterfällt dagegen dem Beurteilungsspielraum der Prüfer. Auch in einem gegebenenfalls folgenden gerichtlichen Verfahren werden die Bewertungen lediglich auf Bewertungsfehler überprüft, die erfahrungsgemäß aber nur sehr selten vorliegen. In den allermeisten Fällen werden die Klagen vor den Verwaltungsgerichten deswegen auch abgewiesen.

Es droht absehbar ein massiver Juristen:innenmangel in vielen Bereichen: Kann man sich angesichts dessen hohe Durchfallquoten sowie das Prüfungsgeschehen in dieser Form noch leisten, wenn mittelfristig nicht die Nachbesetzung in Justiz und Rechtspflege sowie in Verwaltung gefährden werden soll?

Leßner: Der Fachkräftemangel trifft alle Bereiche. Zwar ist die aktuelle Bewerberlage in der baden-württembergischen Justiz noch gut und wir müssen bei der Einstellung der jungen Kolleginnen und Kollegen keine Abstriche in Bezug auf die Qualifikation machen. Aber natürlich ist der Kampf um die besten Köpfe nicht leichter geworden. Für Arbeitgeber wird es künftig noch stärker als bisher darum gehen, den Absolventinnen und Absolventen ein gutes Angebot zu machen, um interessant zu bleiben. Ich glaube, da hat sich in den vergangenen Jahren durch Homeoffice, individuelle Teilzeitlösungen oder das Angebot behördennaher Kinderbetreuungsangebote schon einiges getan, auf das man aufbauen kann.

„Absenken der Anforderungen ist der falsche Weg“

 

Das Absenken der Anforderungen im Prüfungsbereich ist dagegen der falsche Weg, um einem Mangel an Nachwuchskräften zu begegnen. Juristinnen und Juristen üben verantwortungsvolle Berufe mit hoher gesellschaftlicher Bedeutung aus. Sie entscheiden über – teils auch langjährige – Freiheitsentziehungen ebenso, wie über schwierige Arzthaftungsfälle, die Zulässigkeit von wichtigen Bauvorhaben oder die Entziehung des Sorgerechts. Das erfordert umfassende Rechtskenntnisse und die Fähigkeit, das Recht auf den konkreten Fall überzeugend anzuwenden. Die Bevölkerung erwartet zurecht, dass diejenigen, denen in derart wichtigen und sensiblen Bereichen die Rechtsberatung und die Entscheidung über das Leben anderer anvertraut ist, bestens ausgebildet sind.

Welche Veränderungen oder Reformen werden die Justizprüfungsämter in Zukunft umzusetzen haben, um das Prüfungssystem weiter zu verbessern?

Leßner: Das Ziel aller Justizprüfungsämter ist es, die juristische Ausbildung auf der Höhe der Zeit zu halten. Daran arbeiten wir tagtäglich. Das aktuellste Beispiel dafür ist die Einführung der elektronischen Prüfung. Alle Länder haben erkannt, dass der juristische Abschluss auch der digitalen Lebens- und Berufswirklichkeit entsprechen muss. Seitenweise handschriftliche Ausführungen in den Staatsexamensklausuren bilden diese Wirklichkeit aber nicht mehr richtig ab.

Deswegen ist es wichtig, dass sich die Länder auf den Weg gemacht haben, um hier eine entscheidende Neuerung voranzubringen. Das mag in einem Land schneller gehen, als in einem anderen. Die Marschroute ist aber überall die gleiche. Wir in Baden-Württemberg haben Ende April den Zuschlag für die Bereitstellung der technischen Prüfungsumgebung für das elektronische Examen in der Zweiten juristischen Staatsprüfung erteilt. Mit dem erfolgreichen Abschluss des europaweiten Ausschreibungsverfahrens ist bei uns der Startschuss für den Einsatz einer modernen Prüfungstechnik im juristischen
Staatsexamen gefallen.

Referendarinnen und Referendare, die zum 1. April 2023 ihren juristischen Vorbereitungsdienst begonnen haben, sind nicht mehr auf das handschriftliche Prüfungsformat angewiesen, sondern können ihre Klausuren an einem Laptop ablegen. Und wenn uns der Haushaltsgesetzgeber die entsprechenden finanziellen Mittel zur Verfügung stellt, sind wir fest entschlossen, die elektronische Prüfung ab Herbst 2026 auch in der Staatsprüfung in der Ersten juristischen Prüfung anzubieten.

 

 

Jonathan Franz
Marcus Preu