RICHARD BOORBERG VERLAG

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28.10.2024

Verhältnismäßigkeit und Vertrauensschutz bei Schätzungen der Einnahmen

   

Der BFH hatte in einem aktuellen Fall darüber zu entscheiden, ob eine Vollschätzung unter vollständiger Verwerfung der Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen zulässig ist.

R, ein Gastwirt, erzielte den größten Teil seiner Einnahmen in bar. In den (Streit-) Jahren 2011 bis 2014 benutzte er eine elektronische Registrierkasse sehr einfacher Bauart, die bereits in den 1980er Jahren entwickelt worden war. Das Finanzamt sah die Aufzeichnungen von R nicht als ordnungsgemäß an und nahm eine Vollschätzung der Erlöse vor, was zu einer Vervierfachung der erklärten Umsätze führte. R legte Einspruch ein, der als unbegründet zurückgewiesen wurde, woraufhin er klagte. Die angerufene Tatsacheninstanz beauftragte einen Sachverständigen mit der Begutachtung der Registrierkasse. Dieser fand heraus, dass ein interner Zähler der Kasse, der die Lückenlosigkeit der Tagesausdrucke sicherstellen sollte (Z1-Zähler), durch Eingabe entsprechender Codes verändert werden konnte. Daraufhin sah das erstinstanzliche Finanzgericht die Kasse als objektiv manipulierbar an. Sie sei ungeeignet für steuerliche Zwecke. Damit wurde die Vollschätzung des Finanzamts im Wesentlichen bestätigt, obwohl das Finanzgericht keine tatsächliche Manipulation der Kasse hatte feststellen können.

Diese Entscheidung wurde vom BFH aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung zurückverwiesen.

Schätzungsbefugnis des Finanzamts

Ein Steuerpflichtiger hat im Besteuerungsverfahren Mitwirkungs-, Aufzeichnungs- und/ oder Nachweispflichten. Kommt er diesen nicht oder nicht ausreichend nach oder verweigert er geforderte Auskünfte, sodass sich der besteuerungsrelevante Sachverhalt nicht ermitteln lässt, hat das Finanzamt eine Schätzungsbefugnis nach § 162 Abgabenordung (AO).

Zur Begründung einer Schätzungsbefugnis dem Grunde und der Höhe nach darf der Tatrichter sich nicht mit der bloßen Benennung formeller oder materieller Mängel begnügen, sondern muss diese auch nach dem Maß ihrer Bedeutung für den konkreten Einzelfall gewichten. Eine Vollschätzung unter vollständiger Verwerfung der Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen ist nur zulässig, wenn die festgestellten Mängel gravierend sind.

Bei Altkassen ist zu unterscheiden zwischen „manipulierbar“ und „manipuliert“

Seit Jahresbeginn 2020 besteht die Pflicht, elektronische Registrierkassen beziehungsweise Kassensysteme mit einer zertifizierten technischen Sicherheitseinrichtung (TSE) zu versehen.

Die von R in den Streitjahren verwendete Registrierkasse war in der Tat manipulierbar. Bei elektronischen Registrierkassen einfacher Bauart werden Funktionen und Stand der festen Programmierung (Firmware) durch die Bedienungsanleitung dokumentiert. Änderungen von Einstellungen der Kasse sind vom Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Vornahme der Änderungen durch Anfertigung entsprechender Protokolle über die vorgenommenen Einstellungen zu dokumentieren.

Objektive Mängel sind subjektiv zu gewichten

Die Verwendung eines objektiv manipulierbaren Kassensystems stellt grundsätzlich einen formellen Mangel von hohem Gewicht dar, da in einem solchen Fall systembedingt keine Gewähr für die Vollständigkeit der Einnahmenaufzeichnungen gegeben ist.

Das Gewicht dieses Mangels kann sich in Anwendung des Verhältnismäßigkeits- und Vertrauensschutzgrundsatzes im Einzelfall auf ein geringeres Maß reduzieren. Das gilt insbesondere dann, wenn das Kassensystem zur Zeit seiner Nutzung verbreitet und allgemein akzeptiert war und eine tatsächliche Manipulation unwahrscheinlich ist.

Exkulpation durch Mitwirkung des Steuerpflichtigen

Der in der Verwendung einer solchen objektiv manipulierbaren elektronischen Registrierkasse einfacher Bauart liegende formelle Mangel begründet keine Schätzungsbefugnis, wenn der Steuerpflichtige in überobligatorischer Weise sonstige Aufzeichnungen führt, die eine hinreichende Gewähr für die Vollständigkeit der Einnahmenerfassung bieten.

Autoren:
Claudia Ossola-Haring
Quelle:
BFH, Urteil vom 28.11.2023 – X R 3/22