RICHARD BOORBERG VERLAG

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25.03.2024

Teilhabe

Steuerung der Eingliederungshilfe

Zur pragmatischen Umsetzung der Möglichkeiten im Rahmen des BTHG 

Viele Leistungsträger nutzen die Möglichkeiten, die das Bundesteilhabegesetz im Hinblick auf die Steuerungsfähigkeit der Eingliederungshilfe bietet, noch nicht in ausreichendem Maße. Der vorliegende Artikel beschreibt, wie diese gesetzgeberischen Möglichkeiten dennoch pragmatisch umgesetzt werden können und dabei dem vermeintlich widersprüchlichen Spannungsfeld zwischen personenzentrierter Teilhabe einerseits und der wirtschaftlichen Steuerung andererseits strategisch und sinnvoll begegnet werden kann.

von Hartmut Baar, Abteilungsleiter, LWL Inklusionsamt Soziale Teilhabe, und Jennifer Sunder, Sachbereichsleitung, LWL Inklusionsamt Arbeit

 

I.   Einleitung

Durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist die Steuerungsverantwortung und Steuerungsverpflichtung der Träger der Eingliederungshilfe deutlich gestärkt worden. Dies bezieht sich zum einen auf die Steuerung der fachlichen Entwicklung, die den Paradigmenwechsel von der Angebots- zur Personenzentrierung vollzieht und eine stärkere Partizipation, Teilhabe und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung sicherstellen soll. Zum anderen geht es darum, die Steuerungsfunktion der Träger der Eingliederungshilfe zu stärken. Hierzu hat der Gesetzgeber verschiedene Maßnahmen im Rahmen des BTHG vorgegeben.

Viele Leistungsträger nutzen die Möglichkeiten, die das BTHG im Hinblick auf die Steuerungsfähigkeit der Eingliederungshilfe bietet, noch nicht in ausreichendem Maße1. Das mag auch daran liegen, dass sich das komplexe Feld der Eingliederungshilfe einerseits und die Organisationen der Leistungsträger andererseits aus systemtheoretischer Sicht eigentlich einer intentionalen, linearen Steuerung im Sinne von Ursache-Wirkungszusammenhängen entziehen. Der vorliegende Artikel beschreibt, wie diese gesetzgeberischen Möglichkeiten dennoch pragmatisch umgesetzt werden können und dabei dem vermeintlich widersprüchlichen Spannungsfeld zwischen personenzentrierter Teilhabe einerseits und der wirtschaftlichen Steuerung andererseits strategisch und sinnvoll begegnet werden kann.

 

II.  Ausgangslage aus systemtheoretischer Sicht

Das komplexe Feld der Eingliederungshilfe ist gekennzeichnet durch vielfältige und teils widersprüchliche Interessen der unterschiedlichen Stakeholder und erschwert damit tendenziell eine direkte und plandeterminierte Steuerung. Zudem steigert die weiterhin zunehmende Anzahl von Leistungsberechtigten die Ausgaben in der Eingliederungshilfe. Das BTHG verschärft auf den ersten Blick durch dessen übergeordnete Zielsetzungen überdies die bereits bestehende widersprüchliche Interessenslage. Neben dem Fördern einer größtmöglichen Selbstbestimmung durch die Sicherstellung hierfür notwendiger und sozialraumorientierter Leistungen einerseits, besteht andererseits das Ziel des Bremsens der Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe.2

Der Gesetzgeber hat dabei in der Gesetzesbegründung zum BTHG deutlich gemacht, dass die Steuerungsverantwortung auf der Grundlage eines partizipativen Verfahrens bei den Trägern der Eingliederungshilfe liegt. Die Steuerungskompetenz des Trägers der Eingliederungshilfe bezieht sich dabei auf die Bedarfsermittlung, die Zielvereinbarung und die Wirkungskontrolle und insbesondere auch auf die Koordinierung und Realisierung von Leistungsansprüchen. Dies geschieht vor allem durch Maßnahmen zur Erhöhung der Steuerungsfähigkeit, insbesondere der Einführung des für alle Träger der Eingliederungshilfe zur Bedarfsermittlung anzuwendenden Gesamtplanverfahrens und durch Präzisierungen im Vertragsrecht. Ein besonderes Steuerungsinteresse ergibt sich darüber hinaus für den Leistungsträger immer schon aufgrund des grundsätzlichen Risikos einer angebotsinduzierten Nachfrage.

Die durch den Gesetzgeber im Rahmen des BTHG den Trägern der Eingliederungshilfe zugewiesene Steuerungsverantwortung erfordert, dass die Leistungsträger dieser im Rahmen einer Gesamtstrategie Rechnung tragen.

Dabei trifft dieser gesetzgeberische Steuerungsanspruch aus systemischer Sicht auf ein höchstkomplexes Feld, aus dem ein Paradoxon entsteht, welches zur Bewältigung ein erhebliches Maß an Ambiguitätstoleranz auf allen Ebenen der Leistungsträger erfordert. Nicht das Aufdecken von Widersprüchen in einem widersprüchlichen Feld, sondern das Aushalten, das Bewältigen und die Entwicklung anschlussfähiger Steuerungsimpulse sind hier gefordert.

Nicht nur beim Gesetzgeber, auch bei vielen Verantwortlichen auf Seiten der Leistungsträger herrscht in diesem Zusammenhang oftmals ein (zu) steuerungsoptimistisches Grundverständnis, etwa in dem Sinne, dass nur geeignete Maßnahmen entwickelt und umgesetzt werden müssten, um „den Laden im Griff“ zu haben. Komplexe Organisationen oder Zusammenhänge wie komplizierte Zusammenhänge zu behandeln, stellt allerdings einen fundamentalen Denkfehler dar.4

Die Eigendynamik, die Unkalkulierbarkeit von (politischen) Rahmenbedingungen, die individuelle Aufnahme und Verarbeitung von Steuerungsimpulsen führt vielmehr tendenziell zu einer Komplexität, die sich einer direkten Steuerung entzieht. Insofern „bricht sich ein intensiv behaupteter Steuerungsoptimismus an dem erfahrungsgesättigten Wissen, dass zielgerichtete Steuerung in Organisationen nur sehr begrenzt möglich ist“.5

Ein gewisses Maß an Demut in diesem hochkomplexen Feld mit den vielfältigen Widersprüchen ist also angebracht. Dennoch konstatiert auch die Systemtheorie, dass durch das Beobachten und Setzen von Entwicklungsimpulsen anschlussfähige und damit tendenziell wirkungsvolle Steuerungsimpulse gesetzt werden können, um die Intention des Gesetzgebers im Hinblick auf die o.g. Zielsetzungen sinnvoll umzusetzen. Steuerung in diesem Sinne lässt sich demnach eher als ein Bündel von Versuchen beschreiben, „ein lebendiges System in eine gewünschte Richtung zu verführen“6. Diese Steuerungsimpulse richten sich im Wesentlichen auf die drei zentralen Entscheidungsprämissen in Organisationen: Programme, Kommunikationswege, Personen.

 

III.  Grundannahmen und Prinzipien

1.  Normalitätsprinzip

Das BTHG vollzieht konsequent die Annahme, dass Menschen mit Behinderung Menschen mit Fähigkeiten und Fertigkeiten sind. Sie sind in der Lage, ggf. mit entsprechender Unterstützung, neue Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlernen. Hierin zeigt sich der wesentliche Paradigmenwechsel des BTHG von der Fürsorge zur Teilhabe, von der Sichtweise des Menschen mit Behinderung als Objekt zur Sichtweise des Menschen mit Behinderung als Subjekt. Von „Aktion Sorgenkind“ zu „Aktion Mensch“.

2.  Grundsatz der Zweckmäßigkeit, Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit

Gleichzeitig gilt – wie schon bisher – weiterhin der Grundsatz, dass die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen. Dies bedeutet vor allem, dass sie das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Leistungen der Eingliederungshilfe müssen sich dabei an den individuell festgestellten Teilhabezielen der Leistungsberechtigten orientieren und sind grundsätzlich so zu erbringen, dass diese insgesamt wirksam sind und insofern auch eine entsprechende Wirkung erzielen. Die Leistung soll die Menschen mit Behinderung schließlich befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können.

3.  Schwerpunkt Sozialraumorientierung

Der Sozialraum wird im Rahmen des BTHG bei den Leistungen zur Sozialen Teilhabe besonders hervorgehoben. Die Leistungen zur Sozialen Teilhabe sollen dazu beitragen, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen. Wesentliche Aspekte der Sozialraumorientierung zielen darauf, sämtliche zur Verfügung stehenden Ressourcen zu nutzen und aus eigener Kraft erreichbare Ziele anzustreben. Lebenswelten sollen subjektzentriert und lebensraumbezogen erkannt und gefördert werden, um die Potenziale des sozialen Raumes im Sinne des Menschen mit Behinderung zu nutzen. Erforderlich hierfür ist die intensive Vernetzung und Kooperation aller verfügbaren Dienste. Handlungsleitend hierbei ist das Normalitätsprinzip und das Prinzip der aktivierenden Unterstützung vor der betreuenden Tätigkeit. Das heißt, die Aktivierung der eigenen Kräfte des Menschen steht im Vordergrund, nicht die klassische, durch professionelle Tätigkeit erbrachte Betreuung.

Im Hinblick auf den Sozialraum ist dabei eine übergreifende und kontextbezogene Perspektive sinnvoll. Einerseits die Ressourcen der Menschen selbst und andererseits die Ressourcen weiterer Akteure des Sozialraums – etwa die dort vorgefundenen nachbarschaftlichen Beziehungen, sozialen Dienste, Schulen, Bildungs- und Freizeitangebote, Unternehmen, Kirchengemeinden oder die gesamte Infrastruktur, wie ÖPNV, Bauten, Plätze und Parks sowie die Ressourcen der kommunalen Verwaltung usw. Ziel ist es insbesondere also auch, die natürlichen Ressourcen des Sozialraumes in den Blick zu nehmen. Und zwar aus der jeweils individuellen Perspektive des Einzelnen. Dabei ergeben sich, je nach Bedarf und Perspektive völlig unterschiedliche und auch dynamische Ressourcen, die sinnvoll für die Realisierung der Teilhabe genutzt werden können. Sozialraum ist in diesem Sinne eben nicht statisch zu verstehen, sondern je nach Perspektive und Kontext dynamisch und subjektbezogen.

Sozialraumorientierung in diesem Sinne verstanden, bedeutet also nicht, möglichst viele professionelle Angebote sinnvoll im Sozialraum zu platzieren (was tendenziell sogar zu einer erhöhten Nachfrage führen könnte), sondern vielmehr den Menschen mit Behinderung – soweit erforderlich – zu unterstützen bzw. zu befähigen, die natürlichen Ressourcen der sozialen Infrastruktur und der sozialen Netzwerke eigenverantwortlich, kontextbezogen und situativ im Sinne einer selbstbestimmten Teilhabe zu nutzen. Dafür ist es in der Regel auch nicht erforderlich, dass der Leistungsträger oder der Leistungserbringer stellvertretend für den Menschen mit Behinderung umfassende Kenntnisse über den Sozialraum erwirbt und dann anschließend an diesen vermittelt. Ausgehend von einem modernen Teilhabeverständnis, geht es vielmehr darum, den Menschen bei Bedarf zu befähigen und zu unterstützen, die eigenen Kenntnisse über den jeweiligen Sozialraum oder die Fähigkeiten, diese zu erwerben, aktiv zu unterstützen.

 

IV.  Konkrete Elemente einer Gesamtstrategie

Zur Fokussierung auf die übergeordneten, BTHG-konformen Zielsetzungen bedarf es einer darauf ausgerichteten und konsistenten Gesamtstrategie des Leistungsträgers im Bereich der Eingliederungshilfe. Nur so können die Maßnahmen konsequent daran ausgerichtet und koordiniert werden. Eine mehrperspektivische Gesamtstrategie enthält daher sinnvollerweise die folgenden Elemente der personenzentrierten, strukturellen und sozialplanerischen Steuerung und der Optimierung von Verwaltungsprozessen.

1.  Fokussierung sämtlicher Maßnahmen auf die übergeordneten Zielsetzungen

Für das Verwaltungshandeln bedeuten diese Prinzipien, dass die Leistungen grundsätzlich so zu erbringen sind, dass die Menschen, wenn immer möglich, unterstützt werden, ihre Teilhabe künftig wieder selbstständig zu gestalten. Ausgenommen sind davon selbstverständlich alle Fallgestaltungen, in denen die Menschen aufgrund von Art und Schwere der Behinderung ggf. dauerhaft und ggf. sogar zunehmend mehr Hilfen benötigen. Grundsätzlich gilt der Grundsatz, dass die Leistung gewährt wird, die im Einzelfall notwendig ist.

Leitgedanke ist das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Entsprechend dem Gedanken der Teilhabe, dem Befähigungsansatz, der Annahme von Wirksamkeit von Leistungserbringung und insbesondere einem positiven Menschenbild sind die Maßnahmen insofern ausgerichtet an der übergeordneten Strategie des BTHG: mehr Teilhabe, mehr Sozialraumorientierung und gleichzeitig Bremsen der Ausgabendynamik.

Die vom Gesetzgeber angestrebte effektivere Steuerung der Eingliederungshilfe durch die Leistungsträger und ein Bremsen der Ausgabendynamik erfordern eine gemeinsame Fokussierung sämtlicher Funktionseinheiten auf die übergeordneten Ziele und die konsequente Ausrichtung und Koordination sämtlicher Maßnahmen auf diese Ziele. Die heute hohe Qualität der Betreuung und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen wird bei dem Bemühen um wirtschaftliche und effiziente Strukturen dabei ausdrücklich nicht in Frage gestellt.

2.  Entwicklung eines effektiven Steuerungsinstrumentes

Um die Steuerung in der Eingliederungshilfe zu stärken, ist ein Steuerungskonzept sinnvoll, das die Grundprinzipien der Steuerung und die zentralen Steuerungsformate beschreibt sowie den Steuerungskreislauf, in den sie eingebettet sind. Diese Steuerung sollte sich maßgeblich an zwei Grundprinzipien orientieren:

1.  der regionalen, aufgabenübergreifenden Steuerung und

2.  der vergleichenden Kennzahlenanalyse.

Das erste Grundprinzip des Steuerungskonzepts liegt in einer – aufgabenübergreifenden Steuerung auf der Ebene der Regionen. Indem alle Aufgabenbereiche nach demselben Merkmal – der regionalen Zuständigkeit – strukturiert werden, entsteht über die verschiedenen Aufgabenbereiche hinweg eine gemeinsame Orientierung und Verantwortung dafür, dass der Leistungsträger in der jeweiligen Region erfolgreich arbeitet. Und es entstehen Klarheit und Transparenz darüber, welche Personen oder Organisationseinheiten in den verschiedenen Aufgabenbereichen jeweils für eine Region – und den Erfolg in der Region – verantwortlich sind. Aufgabenübergreifende Steuerung bedeutet in diesem Kontext, dass diese verantwortlichen Personen aus den verschiedenen Aufgabenbereichen in ihrer Aufgabenwahrnehmung nicht isoliert agieren, sondern sich koordinieren und gemeinsam steuern.

Das zweite Grundprinzip bilden die vergleichenden Kennzahlenanalysen. Die Basis dafür ist das integrierte Fach- und Finanzcontrolling, das kennzahlenbezogene Daten aufbereitet und in Form von Berichten zur Verfügung stellt. Auf dieser Grundlage werden mithilfe vergleichender Analysen zwischen Regionen und Gebietskörperschaften Unterschiede, Abweichungen und Auffälligkeiten in Bezug auf die Aufgabenwahrung und Zielerreichung identifiziert und ausgewertet (Kennzahlenanalyse) und die daraus gewonnenen Erkenntnisse für die (qualitative) Steuerung genutzt (Steuerungsimpulse). Werden aus der Kennzahlenanalyse Steuerungsimpulse abgeleitet, mit deren Hilfe die Zielerreichung verbessert wird, kann der Vergleich zwischen den Gebietskörperschaften und Regionen dazu genutzt werden, um „best practice“ voneinander zu lernen. Erkenntnisse über erfolgreiche Strategien sollen gewonnen, Optimierungsmöglichkeiten identifiziert und Maßnahmen eingeleitet werden. Letztere können neben Steuerungsimpulsen für die operative Aufgabenwahrnehmung auch der Weiterentwicklung der Strategie und Organisation dienen, etwa in der Form von organisatorischen Veränderungen, identifizierten Qualifizierungsbedarfen, notwendigen Anpassungen von Soll-Vorgaben oder dem besseren Verständnis von strukturellen Rahmenbedingungen.

3.  Entwicklung effektiver und moderner Prüfverfahren

Um die Steuerungsverantwortung und Steuerungsverpflichtung der Träger der Eingliederungshilfe deutlich zu stärken, wurden im Rahmen des BTHG in § 128 SGB IX auch die Prüfmöglichkeiten des Leistungsträgers gestärkt. Mit der dritten Reformstufe des BTHG sind zum 1.1.2020 gesetzliche Prüfrechte für die Träger der Eingliederungshilfe in Kraft getreten. Diese Prüfungen nach § 128 SGB IX sind ein Steuerungsinstrument der Träger der Eingliederungshilfe und umfassen die Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit von Leistungen. Die Gesetzesbegründung zum BTHG beschreibt das Ziel des § 128 SGB IX wie folgt:

„Der durch die Vorschrift gestattete Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit dient zum einen der Gewährleistung einer qualitativ angemessenen Leistungserbringung und zum anderen einer wirtschaftlichen Verwendung der durch Steuergelder finanzierten Leistungen der Eingliederungshilfe. Es soll sichergestellt werden, dass die finanziellen Mittel nur für den vorgesehenen Zweck eingesetzt werden und der Leistungserbringer seine gesetzlichen und vertraglichen Pflichten erfüllt.“7

Das Land NRW hat bspw. zudem von der Öffnungsklausel im § 128 SGB IX Gebrauch gemacht und gibt in § 8 Ausführungsgesetz zum SGB IX NRW (AG-SGB IX NRW) anlassunabhängige, unangekündigte Qualitätsprüfungen vor. An § 128 SGB IX schließen sich Möglichkeiten der Sanktionierung an, nämlich die Kürzung der Vergütung gem. § 129 SGB IX sowie – als „ultima ratio“ – die außerordentliche Kündigung gem. § 130 SGB IX. Dabei sollte das Prüfrecht des § 128 SGB IX in erster Linie allerdings nicht als Möglichkeit der Prüfung mit anschließender Sanktionierung, sondern vor allem als Möglichkeit gesehen werden, dauerhaft die Qualität der Leistungserbringung zu sichern und zu optimieren. Insofern führt ein entsprechend beratungsorientierter Ansatz zu mehr Leistungs- und Qualitätskontrolle und mittelbar zu einer erhöhten Wirtschaftlichkeit.

4.  Gesamtplanung

Das individuelle Leistungsgeschehen zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und Leistungsberechtigten wird im Einzelfall durch die Schritte des Gesamtplanverfahrens strukturiert.

Die Steuerungsfunktion der Leistungsträger gegenüber den Leistungserbringern wurde gestärkt und insbesondere für die Träger der Eingliederungshilfe eine praktikable, bundesweit vergleichbare Gesamtplanung normiert, die das für alle Rehabilitationsträger verbindlich geltende Teilhabeplanverfahren ergänzt. Erbrachte Leistungen können damit tendenziell künftig einem Prüfungsrecht des Leistungsträgers und einer Wirkungskontrolle unterzogen werden. Das entspricht der Intention des Gesetzgebers, die Leistungen der neu ausgerichteten Eingliederungshilfe passgenau, sparsam und wirtschaftlich zu erbringen.

Dem Gesamtplan kommt die Leitfunktion zu: Er sichert nicht nur formal, dass der Eingliederungshilfeträger den ihm gesetzlich verliehenen Sicherstellungsauftrag ausfüllt. Der Gesamtplan ist vor allem Grundlage für die Bedarfe, die durch Unterstützungen gedeckt werden müssen. Mit der Dokumentation der Teilhabeziele im Bedarfsermittlungsinstrument wird die Möglichkeit zur Überprüfung der Erfüllung der notwendigen Unterstützung in den Aspekten von Qualität, Wirksamkeit und Wirkung geschaffen. Im Rahmen der Gesamtplanung sind alle Lebensbereiche ganzheitlich zu betrachten und darüber hinaus die Steuerungsfähigkeit des Leistungsträgers sicherzustellen.

Der Gesamtplan nach § 121 SGB IX dient insofern der Steuerung, der Wirkungskontrolle und der Dokumentation des Teilhabeprozesses und ist regelmäßig zu überprüfen und fortzuschreiben.

In Beratungssituationen mit Antragstellenden kann so kompetent zu den niedrigschwelligen Ressourcen im Sozialraum informiert werden. Auch die Beteiligung anderer Leistungs- oder Rehabilitationsträger wird z.B. im Rahmen einer Teilhabeplankonferenz sichergestellt. Ergeben sich im Laufe der Leistungsgewährung Änderungen in einzelnen Lebensbereichen, welche Wechselwirkungen in andere entfalten, wird durch einen transparenten Informationsfluss bedarfsgerecht reagiert und werden ggf. Änderungen in der Leistungsgewährung vorgenommen und damit ein effektiver Einsatz von Ressourcen sichergestellt.

Unter Berücksichtigung der Ziele und Aufgaben sowie der Erfolgsbezogenheit der Eingliederungshilfe (Befähigungsansatz, s. § 90 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 113 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 78 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB IX) kann insbesondere in Fällen, in denen davon auszugehen ist, dass künftig deutliche Teilhabefortschritte erzielt werden können, eine Leistungsgewährung mit dem Fokus der Selbstbefähigung in Abhängigkeit von den Teilhabefortschritten geprüft werden.

Hierdurch ist gewährleistet, dass sukzessive und in Abhängigkeit von der Wirksamkeit der eingesetzten Maßnahmen, das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe auch tatsächlich zur Anwendung kommt. Unter der Annahme, dass mit zunehmender Dauer der wirksamen Leistungserbringung der individuelle Bedarf geringer werden kann, kann konsequenterweise eine Anpassung des Leistungsumfangs in Betracht gezogen werden. Sollte jedoch weiterhin ein konstanter und entsprechender Bedarf gesehen werden, werden die notwendigen Leistungen selbstverständlich weiter im erforderlichen Umfang sichergestellt.9

5.  Synchronisierung der Unterstützungsprozesse auf die übergeordneten Zielsetzungen

Sämtliche Maßnahmen im Bereich der Personalentwicklung, der Kommunikation und der Programme (Arbeitshilfen etc.) sollten im Sinne des oben beschriebenen systemtheoretischen Ansatzes fokussiert werden auf die übergeordneten Ziele des BTHG: Mehr Teilhabe durch Sicherstellung notwendiger und sozialraumorientierter Leistungen, Ermöglichung größtmöglicher Selbstbestimmung und gleichzeitig Bremsen der Ausgabendynamik.

Das Controlling als Steuerungsunterstützung sollte zur aktuellen Information der Leitungsebene und sämtlicher Funktionsgruppen hinsichtlich der Zielerreichung konsequent an den o.g. Zielen ausgerichtet werden. Im Rahmen einer fortlaufenden Prozessoptimierung im Sinne eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses werden sämtliche Programme und Kommunikation im Hinblick auf die notwendige Mehrperspektivität und auf deren Ausrichtung auf die o.g. übergeordneten Sachziele ausgerichtet. Das betrifft die fortlaufenden Schulungen und Qualifizierungen im Bereich der Leistungsträger, sämtliche Arbeitshilfen für die Teilhabeplanung und sämtliche Austauschformate. Ein wesentlicher Aspekt im Hinblick auf die Steuerung der Eingliederungshilfe besteht dabei auch in der Rollenklarheit für sämtliche Funktionsgruppen und die Fokussierung auf das Mandat des Leistungsträgers im leistungsrechtlichen Dreieck, um dieses souverän und effektiv im Rahmen der Gesamtplanung auszuüben.

 

V.   Fazit

Ausgehend von der im Rahmen des BTHG definierten Steuerungsverantwortung und Steuerungsverpflichtung der Träger der Eingliederungshilfe und der These, dass sich komplexe Systeme im (vermeintlichen) Widerspruch dazu einer plandeterminierten, linearen Steuerung entziehen, wurde anhand konkreter Aspekte dargestellt, wie diesem Spannungsfeld mit anschlussfähigen Steuerungsimpulsen dennoch sinnvoll begegnet werden kann. Komplexität kann weder reduziert noch vereinfacht werden. Werden die oben genannten Steuerungsimpulse sinnvoll eingesetzt und kontinuierlich weiterentwickelt, kann die Steuerungsverantwortung und -verpflichtung des Leistungsträgers dennoch offensiv aufgegriffen und umgesetzt werden. Auf der Grundlage eines modernen Teilhabeverständnisses, einem positiven Menschenbild und einem weiten Verständnis von Sozialraum lässt sich so dem Spannungsfeld zwischen Personenzentrierung und Teilhabe einerseits und dem geforderten Begrenzen der Ausgabendynamik andererseits sinnvoll und im Sinne des Gesetzgebers begegnen.

 

Anmerkungen:

 Bericht zum Stand und zu den Ergebnissen der Maßnahmen nach Art. 25 Abs. 2 bis 4 des Bundesteilhabegesetzes, BT-Drs. 20/5150 S. 177.

2   Gesetzesentwurf BTHG, BT-Drs. 18/9522 S. 6.

 Gesmann/Merchel; Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis, 2. Aufl. 2021, S. 45.

 Pläging: Organisation für Komplexität – Wie Arbeit wieder lebendig wird – und Höchstleistung entsteht, 2013, S. 15.

 Gesmann/Merchel; Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis, 2. Aufl. 2021, S. 49.

6   Seliger 2013, Das Dschungelbuch der Führungskräfte – Ein Navigationssystem für Führungskräfte, 5. Aufl. 2014, S. 84.

 Gesetzesentwurf BTHG, BT-Drs. 18/9522 S. 298 f.

 Gesetzesentwurf BTHG, BT-Drs. 18/9522 S. 287.

 Gesetzesentwurf BTHG, BT-Drs. 18/9522 S. 285.

 

Quelle:
Behinderung und Recht. Fachzeitschrift für Inklusion, Teilhabe und Rehabilitation (br), Heft 1/2024, Seite 9 ff.