Ein Beitrag zur Auslegung und Anwendung des § 22 Abs. 6 Satz 1 und 3 in Verbindung mit § 42 a Abs. 2 Satz 1 SGB II
von Dr. Manfred Hammel1
Die Bundesregierung legte in ihrer auf eine Kleine Anfrage der BT-Fraktion DIE LINKE hin in Sachen „Schulden beim Jobcenter“ gegebenen Antwort vom 16.12.2022 (BT-Drs. 20/4987) dar, dass die Gründe für die Gewährung eines Darlehens in etwas mehr als jedem zweiten Fall auf die Bestreitung solcher Wohnungsbeschaffungskosten zurückzuführen sind (BT-Drs. 20/4987, S. 7). Dort wurde aber nicht näher auf die Umsetzung des § 42 a Abs. 2 SGB II eingegangen, sondern es erfolgte der pauschale Verweis auf die in diesem Rahmen regelmäßig erfolgende Tilgung über eine monatliche Aufrechnung mit dem maßgebenden Regelbedarf.
In jüngster Zeit ergingen zu diesem Problembereich einige sozialgerichtliche Entscheidungen, die sich gerade in Sachen einer vom Jobcenter für länger als 36 Monate angesetzten Aufrechnungsdauer kritisch äußerten, hingegen eine analoge Anwendung des § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II sowie eine Vorgehensweise in besonderer Berücksichtigung der den jeweiligen Einzelfall prägenden persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen befürworteten.
A) Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)
Zur Aufrechnung eines Mietkautionsdarlehens mit dem Regelbedarf entsprechend § 22 Abs. 6 Satz 1 und 3 SGB II in Verbindung mit § 42 a Abs. 2 SGB II stellte BSG mit Urteil vom 28.11.20182 die nun folgenden Punkte heraus:
1. Entsprechend § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II gewährte Darlehen sind von der Aufrechnung gemäß § 42 a Abs. 2 SGB II nicht ausgenommen, ohne dass dem durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken (insbesondere der aus Art. 1 Abs. 1 GG hervorgehende Menschenwürdegrundsatz) entgegenstehen.
2. § 42 a Abs. 2 SGB II trägt nach seinem Wortlaut, seiner Systematik, seiner Entstehungsgeschichte und seinem Regelungszweck die sofortige Aufrechnung zum Zwecke der Tilgung eines vom Jobcenter gewährten Mietkautionsdarlehens. Bei § 42 a Abs. 2 SGB II handelt es sich um eine „Sonderbestimmung zur Fälligkeit des noch nicht getilgten Darlehensbetrags“.
3. Diese Aufrechnung kann bei der hiervon betroffenen Klientel im Einzelfall durchaus zu deutlichen Bedarfsunterdeckungen führen.
4. Der vom Jobcenter nach § 42 a Abs. 2 SGB II erlassene Dauerverwaltungsakt ist deshalb von diesem SGB II-Träger unter Kontrolle zu halten, um eine überhöhte Darlehensrückzahlung durch Aufrechnung zu verhindern und jederzeit auf rechtlich bedeutsame Änderungen in den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen einer Bedarfsgemeinschaft reagieren zu können.
5. Die Tilgung solcher Darlehen durch Aufrechnung gemäß § 42 a SGB II hat so lange als rechtmäßig aufgefasst zu werden wie sichergestellt ist, dass den von diesem Verwaltungshandeln betroffenen Personen auch in dieser Situation die zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts notwendigen Mittel zur Verfügung stehen.
6. Einem Jobcenter darf hier auf Interventionsmöglichkeiten wie eine zeitliche Begrenzung der Aufrechnung auf maximal drei Jahre in analoger Anwendung des § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II und ein (Teil-) Erlass von Rückzahlungspflichten auf der Grundlage des § 44 SGB II wegen der Unbilligkeit der Einziehung entsprechender Forderungen zurückgreifen. Der verfassungsrechtlichen Relevanz der Dauer einer nach § 42 a Abs. 2 SGB II verfügten Aufrechnung kann über eine sachgerechte Anwendung des SGB II ausreichend Rechnung getragen werden.
Das oberste deutsche Sozialgericht hielt in dieser Entscheidung die Aufrechnung einer Mietkaution in einer Höhe von 566,00 ¤ mit dem Regelbedarf eines allein stehenden erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bei einer Tilgungsdauer von deutlich weniger als drei Jahren für rechtlich unbedenklich.
B) Problemanalyse
In diesem Sachzusammenhang besteht das zentrale Problem darin, dass der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 20 SGB II) in keiner Weise Aufwendungen für derartige Wohnungsbeschaffungskosten mit umfasst.
Über das Inkrafttreten von Art. 1 Nr. 38 b aa) des „Zwölften Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes (Bürgergeldgesetz)“ vom 16.12.20223 wurde zwar mit Wirkung zum 1.7.2023 die in § 42 a Abs. 2 Satz 1 SGB II vorgegebene Höhe des monatlichen Aufrechnungssatzes von bislang zehn Prozent des maßgebenden Regelbedarfs auf nunmehr fünf v. H. dieses Richtsatzes abgesenkt, es bleibt aber dennoch bei einer entsprechenden Schmälerung des Existenzminimums leistungsberechtigter Personen bedingt durch einen aufrechnungsbedingt verminderten Auszahlungsanspruch von längerer Dauer4. Diesem Vorgang steht keine Erlangung von zur Finanzierung des Lebensunterhalts einsetzbarer Mittel gegenüber.
Die zentrale Wirkung des über Art. 2 Nr. 32 des „Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches des Sozialgesetzbuch“ vom 24.3.20115 in Kraft gesetzten, die Gewährung und Rückführung von Darlehen des SGB II-Trägers betreffenden Rahmenvorschrift § 42 a SGB II besteht darin, dass über die Umsetzung dieser Norm das Jobcenter das Risiko der Uneinbringlichkeit der von ihm aufgebrachten Mittel für die Finanzierung einer Mietkaution oder von Genossenschaftsanteilen – z. B. wenn Bürgergeld erhaltende Personen Schäden an der Mietsache oder Mietrückstände zu verantworten haben, diese Klientel aber wegen des zwischenzeitlichen Verlassens des Bundesgebiets für den SGB II-Träger nicht mehr greifbar ist – (zunächst monatlich anteilig) auf bedürftige Menschen überträgt.
Die Forderung, dass Bürgergeld beziehende Personen mit der von ihr bewohnten und mit öffentlichen Mitteln finanzierten Mietsache sorgsam umgehen, steht prinzipiell in Übereinstimmung mit dem das SGB II prägenden Grundsatz des „Fördern und Fordern“ (§§ 1 ff. SGB II).
Andererseits ist es kritisch aufzugreifen, wenn auf der Grundlage des § 22 Abs. 6 Satz 3 i. V. m. § 42 a Abs. 2 SGB II ein Jobcenter von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten „ein – systematisch unzulässiges – nachträgliches Ansparen von Bedarfen der Unterkunft abverlangt“6.
Für den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge reicht in diesem Zusammenhang die Abgabe von Bürgschaften oder die Abtretung des Rückzahlungsanspruchs zur Sicherung des Rückzahlungsanspruchs des öffentlichen Trägers aus.
In seiner „Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung (BR-Drs. 66/16)“ vom 16.3.20167 vertrat der DV noch die Forderung, in das SGB II sollten „klarstellende Regelungen zur Tilgung von Darlehen für Mietkautionen und Genossenschaftsanteile aufgenommen werden, die eine laufende und (je nach Darlehensbetrag) langfristige Unterschreitung des Existenzminimums ausschließen“8.
Der Gesetzgeber berücksichtigte diesen für die Gewährung von Darlehensleistungen und deren Tilgung wichtigen Aspekt im Rahmen der weiteren Gestaltung des Rechts der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) aber nicht. Auch aus den von der Bundesagentur für Arbeit zu § 42 a SGB II herausgegebenen „Fachlichen Weisungen“ gehen ebenfalls keine entsprechenden Klarstellungen hervor.
Ohne eine solche Regelung darf ein Jobcenter prinzipiell derart lange mit dem zeitgleich gewährten Regelbedarf aufrechnen bis entweder das nach § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II bewilligte Darlehen vollständig zurückgezahlt wurde, oder der jeweilige Darlehensschuldner nicht mehr gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt ist, z. B. die Altersgrenze nach § 7 a SGB II erreicht hat (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II) bzw. nicht mehr als erwerbsfähig i. S. d. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. § 8 Abs. 1 SGB II aufgefasst werden kann: In diesem Fall hat der SGB II-Träger keine Zuständigkeit mehr.
C) Die in der Literatur vertretenen Auffassungen
In der Literatur wird die Rechtmäßigkeit eines solchermaßen weitgehenden Verwaltungshandelns abgelehnt:
Dauber9 vertritt mit Hinweis auf § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II den Standpunkt, „ein über drei Jahre hinausgehender Zeitraum der Aufrechnung“ könnte nicht mehr als „verfassungskonform“ bezeichnet werden.
Hengelhaupt10 zweifelt es an, ob eine zeitlich unbefristete Anwendung des § 42 a Abs. 2 Satz 1 SGB II durch die Jobcenter noch dem Bedarfsdeckungsprinzip gerecht wird, gerade wenn die Darlehensschuldner weder ein Zusatzeinkommen erzielen können noch „zukunftsnahe Erwerbschancen bestehen“, und weil das solchermaßen zurückzuführende Darlehen einen nicht aus dem Regelbedarf anzusparenden Bedarf entspricht. Auch dieser Kommentator verweist hier auf die in § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II hinsichtlich der Dauer der Aufrechnung vorgegebene zeitliche Begrenzung von maximal drei Jahren11 und warnt vor einer in diesem Zusammenhang erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sonst drohenden „dauerhaften Verschuldungs- und Unterdeckungspauschale“12, weil dieser Klientel keine Ansparreserve mehr zur Verfügung steht.
Conradis13 beklagt schließlich ein Fehlen von dieses Problem lösenden Vorschlägen, hält § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II ebenfalls für eine hier analog anwendbare Bestimmung sowie thematisiert den Aspekt, dass eine entsprechend § 43 SGB II aufrechenbare Forderung nicht nach Ablauf des dort festgeschriebenen Zeitraums erlischt, sondern vom Jobcenter durch eine Pfändung von Erwerbseinkommen oder eine Verrechnung mit einer gesetzlichen Rente im Verfahren gemäß § 51 Abs. 1 SGB I vollstreckt werden kann14.
Es bleibt hier der Rechtsprechung überlassen, in streitigen Aufrechnungssachen jeweils eine Entscheidung zu fällen, die insbesondere dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem Prinzip der Wahrung von Bedarfsgerechtigkeit und Menschenwürde aber auch berechtigten Belangen der öffentlichen Hand entspricht.
D) Die Rechtsprechung der Sozialgerichte
In erster Linie wirft sich hier die Frage auf, ab wann nicht mehr von einem nur vorübergehenden Zeitraum, der der Durchführung einer Aufrechnung im Einzelfall einer Darlehenstilgung entgegensteht, ausgegangen werden darf.
In Orientierung anhand der vom BSG mit Urteil vom 28.11.2018 vertretenen Punkte wird in der Rechtsprechung der Sozialgerichte überwiegend auf eine Beschränkung der Dauer der Aufrechnung zur Tilgung eines Mietkautionsdarlehens oder von durch das Jobcenter vorfinanzierten Genossenschaftsanteilen im Sinne einer „Kappungsgrenze“ von drei Jahren15 entsprechend § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II erkannt16.
Das LSG Nordrhein-Westfalen entschied bereits mit Urteil vom 23.4.201517 im Fall eines allein stehenden, wegen eines psychiatrischen Krankheitsbilds schwerbehinderten (GdB: 100) erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, bei vom Jobcenter entsprechend § 22 Abs. 6 Satz 1, 2. Halbs. i. V. m. Satz 3 SGB II auf Darlehensbasis übernommenen Genossenschaftsanteilen für den Bezug einer nach verhaltensbedingter Kündigung der bisherigen Mietsache notwendigen und auch angemessenen neuen Wohnung wäre die vom SGB II-Träger mit Verweis auf § 42 a Abs. 2 Satz 1 SGB II verfügte Aufrechnung zur Rückführung dieses Darlehens für eine Dauer von insgesamt 57 Monaten als rechtswidrig aufzufassen. Der Tenor war hier der, bei einem derart langen Zeitraum wäre nicht mehr von einer nur vorübergehend angesetzten Einschränkung existenznotwendiger Bedarfe in einem schwierig gelagerten Einzelfall auszugehen.
Das LSG Thüringen stellte mit Beschluss vom 2.1.201418 im Fall einer allein erziehenden Mutter mit einem Kleinkind zentral heraus, in solchermaßen gelagerten Fällen hätte der SGB II-Träger stets dem Grundsatz der individualisierenden Bedarfsdeckung zu entsprechen, d. h. die Aufrechnungsdauer jeweils einzelfallbezogen festzusetzen, gerade wenn sich die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse von um die Finanzierung einer neuen, unabdingbaren wohnungsmäßigen Versorgung nachsuchenden Leistungsberechtigten sehr angegriffen darstellen.
Das Sozialgericht Berlin erklärte es bereits mit Beschluss vom 30.9.201119 im Fall einer nach den §§ 67 ff. SGB XII unterstützten Antragstellerin, die nach der Beendigung ihrer von der Jugendhilfe finanzierten einrichtungsmäßigen Unterbringung eine ihr vom Sozialhilfeträger vermittelte Wohnung bezog, für „nicht verfassungsgemäß“ diese in verschiedener Hinsicht bedürftige Person über die Geltendmachung einer Aufrechnungsforderung des Jobcenters mit Verweis auf das ihr gewährte Kautionsdarlehen „über 20 Monate hinweg auf ein Leistungsniveau zu drücken, das Ansparungen vom oder Ausgleiche im Regelbedarf ausschließt“20.
Im Fall einer alleinerziehenden Mutter eines Kleinkinds, die nach der Geburt ihres Sohnes nicht mehr bei ihren Eltern bleiben konnte und auf den Bezug einer eigenen, angemessenen Wohnung angewiesen war, vertrat das LSG Berlin-Brandenburg mit Beschluss vom 18.11.201321 einen ähnlichen Standpunkt:
In Bezug auf das vom Jobcenter dieser Bedarfsgemeinschaft gewährte Kautionsdarlehen fasste diese Beschwerdeinstanz die vom SGB II-Träger verfügte Aufrechnungsphase von mehr als zwei Jahren als die Festsetzung einer „Unterschreitung des Existenzminimums von verfassungsrechtlich nicht akzeptabler Dauer“ auf.
Bei einem alleinstehenden erwerbsfähigen Leistungsberechtigten erkannte das Sozialgericht Potsdam mit Urteil vom 14.6.201722 ebenfalls auf die Rechtswidrigkeit des eine Aufrechnungsbestimmung von insgesamt 58 Monaten verfügenden, vom Jobcenter nach § 22 Abs. 6 Satz 3 i. V. m. § 42 a Abs. 2 Satz 1 SGB II erlassenen Verwaltungsakts.
In diesem Fall überzeugte ebenfalls der Aspekt, dem gemäß durch eine Aufrechnung über einen solchermaßen langen Zeitraum hinweg hier von einer verfassungsrechtlich nicht akzeptablen Bedarfsunterdeckung auszugehen ist.
Die Festsetzung der exakten Dauer eines Aufrechnungszeitraums gemäß § 42 a Abs. 2 SGB II steht im pflichtgemäß vom Jobcenter auszuübenden Ermessen.
Wenn das LSG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 31.5.201823 pauschal den Standpunkt vertritt, eine auf § 42 a Abs. 2 Satz 1 SGB II gestützte Aufrechnungserklärung wäre in Bezug auf die dort vorgegebene Tilgungsdauer von 28 Monaten und die in diesem Zeitraum sich deshalb sehr eingeschränkt darstellenden Ansparmöglichkeiten nicht zu beanstanden, weil die Entstehung einer Versorgungslücke bei einer Länge der Rückführungsphase von weniger als 36 Monaten nicht zu befürchten sei, dann greift diese Argumentation entschieden zu kurz:
Von ausschlaggebender Bedeutung sind hier zentral die den jeweiligen Einzelfall prägenden Gegebenheiten. Dies steht einer amtlicherseits undifferenzierten Orientierung anhand von Richtwerten entgegen.
Wenn hingegen entsprechende Besonderheiten nicht anzuerkennen sind, dann kann auch eine voraussichtliche Länge des Aufrechnungszeitraums von 21 Monaten in keiner Weise von vornherein als unzulässig aufgefasst werden:
Das LSG Nordrhein-Westfalen legte mit Urteil vom 11.5.201724 zum einen dar, die fortlaufende Rückführung eines Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung gemäß § 42 a Abs. 2 Satz 1 SGB II stellt sich nach den dieser Bestimmung zugrunde liegenden gesetzgeberischen Motiven als der Regelfall dar. Es handelt sich hier um einen notwendigen Teil des Regelungskonzepts innerhalb des Dreiecksverhältnisses zwischen dem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, dem Wohnungsgeber und dem Jobcenter. Auch im Fall einer Familie mit fünf Kindern ist nicht sofort auf die Rechtswidrigkeit eines solchen Aufrechnungsbescheids zu erkennen. Während dieser Tilgungsphase möglicherweise entstehenden, erheblichen Auswirkungen auf das Existenzminimum dieser siebenköpfigen, auf einen entsprechend großflächigen Wohnraum angewiesenen Bedarfsgemeinschaft kann seitens des SGB II-Trägers durch eine auf § 44 SGB II gestützte Erlassentscheidung oder eine Umwandlung (eines Teils) der Darlehensgewährung in einen nicht rückzahlbaren Zuschuss25 wirksam begegnet werden.
Das Sozialgericht Berlin vertrat schließlich mit Urteil vom 22.2.201326 in sachlich richtiger Weise die Einschätzung, die mit einer Darlehensgewährung nach § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II zwingend verbundene Soforttilgung mit einer nicht disponiblen Rate gemäß § 42 a Abs. 2 Satz 1 SGB II würde die Anforderungen, die an die Prüfung eines atypischen Falls gestellt werden, verschärfen, damit verfassungswidrige Entscheidungen verhindert werden. Dieser Entscheidung lag der Fall einer alleinerziehenden türkischen Mutter eines Kleinkinds, die sich in ihrem Heimatstaat nicht halten konnte und in Deutschland zunächst in einer Notunterkunft für Frauen aufgenommen wurde, die auch dieser Familie einen Individualwohnraum vermittelte, wo die Mutter ihr Leben neu ordnen und von wo aus sie auch einer Therapie nachgehen kann, zugrunde.
Das Sozialgericht erkannte darauf, bei diesen Gegebenheiten sei aufgrund einer amtlicherseits auf 27 Monate angesetzten Aufrechnungsphase von einer dauerhaften Unterschreitung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums, einer Aushebelung des dem Regelbedarf zugrunde liegenden Ansparkonzepts wie auch von einer Ausprägung einer verstetigten Bedarfsunterdeckung auszugehen.
Bei dieser Antragstellerin lag deren lebenslagenbedingte Konfrontation mit verschiedenen, jeweils sehr stark ausgeprägten Vermittlungshemmnissen bei der Wiedereingliederung in das Erwerbsleben nur zu klar auf der Hand. Diese Person hatte insbesondere auch keine begründete Aussicht weder auf die Erzielung eines Hinzuverdiensts noch auf ein sich kurzfristig vollziehendes Ausscheiden aus dem Bezug von Bürgergeld. Dies führte zur Feststellung der Rechtswidrigkeit des dieser Hilfebedürftigen vom Jobcenter zugestellten Aufrechnungsbescheids.
Diese Entscheidung ist wegen der besonderen Bedeutung nachfolgend abgedruckt.
E) Zusammenfassung
Das SGB II gibt in seinem § 42 a Abs. 2 Satz 1 die Tilgung von Darlehen nach § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II als den Regelfall der Rückführung dieser Verbindlichkeiten vor.
Über die deutliche Absenkung des monatlichen Aufrechnungssatzes von zehn v. H. auf nunmehr fünf v. H. des maßgebenden Regelbedarfs seit dem 1.7.2023 schuf der Gesetzgeber eine deutliche Erleichterung für die von einem solchen Tilgungsverlangen betroffene Klientel. Es bleibt aber bei einer auch hierdurch bewirkten Einschränkung des Existenzminimums, was im Einzelfall zu erheblichen Schwierigkeiten führen kann.
Hinsichtlich der maximalen Dauer einer solchen Aufrechnungsphase gehen weder aus dem Gesetz noch aus den zum SGB II erlassenen Richtlinien nähere Bestimmungen hervor. Diese Regelungslücke ist vom Jobcenter in sachgerechter Berücksichtigung der den jeweiligen Einzelfall maßgeblich prägenden persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach pflichtgemäßem Ermessen zu schließen.
In Berücksichtigung des § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II darf dieser Zeitraum unter keinen Umständen länger als 36 Monate betragen, hat aber im besonders begründeten Fall durchaus niedriger festgesetzt zu werden.
Auch wenn während dieser Phase das vom SGB II-Träger zur Finanzierung einer Mietkaution oder notwendiger Genossenschaftsanteile bewilligte Darlehen nicht vollständig getilgt werden kann, stehen dem Jobcenter weitere Sicherungsmöglichkeiten wie die Abtretung des jeweiligen Rückzahlungsanspruchs zur Verfügung.
Anmerkungen
1 Juristischer Mitarbeiter beim Caritasverband für Stuttgart e. V.; E-Mail: dr.m.hammel@t-online.de.
2 B 14 AS 31/17 R, ZfF 2019, S. 163 (Leitsätze), NDV-RD 2020, 5 ff.
3 BGBl. I 2022, S. 2328 ff.
4 Hierzu grundsätzlich das LSG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 27.12.2011 – L 5 AS 473/11 B ER - NDV-RD 2012, 52 ff.
5 BGBl. I S. 453 ff.
6 So der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge (DV) in seinen „Empfehlungen und Stellungnahmen“ in Sachen „Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Leistungsrechts im SGB II“ vom 11. 9. 2013 (NDV 2013, 486).
7 NDV 2016, 193 ff.
8 NDV 2016, 193, 196.
9 In: Mergler/Zink: SGB II; Rdnr. 13a zu § 42 a SGB II.
10 In: Hauck/Noftz: SGB II; K § 42 a, Rdnr. 319.
11 Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz: SGB II; K § 42 a, Rdnr. 318.
12 Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz: SGB II; K § 42 a; Rdnr. 317.
13 info also 2021, 104 ff.
14 Conradis info also 2021, 104, 108.
15 Hierzu bei Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz: SGB II; K § 42 a, Rdnr. 70.
16 Vgl. zuletzt die Sozialgerichte Köln, Urt. v. 7.2.2022 – S 45 AS 3461/10 WA - info also 2023, 129 ff.) und Hamburg, Urt. v. 2. 12. 2022 – S 39 AS 11/20.
17 L 7 AS 1451/14.
18 L 9 AS 1089/13 B.
19 S 37 AS 24431/11 ER, NDV-RD 2011, 138 ff.
20 Sozialgericht Berlin NDV-RD 2011, 138, 139.
21 L 10 AS 1793/13 B PKH.
22 S 49 AS 305/16.
23 L 29 AS 1514/17.
24 L 6 AS 111/14.
25 Zur Abweichung von der Regelform der Bewilligung einer Mietkaution auf Darlehensebene: LSG Hamburg, Urt. v. 12.2.2017 – L 4 AS 135/15 - ZfF 2018, 133 ff.) sowie bei Hammel ZfF 2018, S. 127 ff.
26 S 37 AS 25006/12.