Zugleich Besprechung des Urteils des LAG Düsseldorf, Urteil vom 9.12.2020 – 12 Sa 554/20
von Gerhard Zorn, Landschaftsverband Rheinland (LVR), Leiter des Fachbereichs Querschnittsangelegenheiten (IT, Personal, Haushalt und Rechtsangelegenheiten) im Dezernat Schulen, Inklusionsamt, Soziales Entschädigungsrecht
Das LAG Düsseldorf hat in anerkennenswerter Weise die Verpflichtung des Arbeitgebers herausgearbeitet, nach formalem Abschluss eines BEM-Verfahrens auch innerhalb von zwölf Monaten ein neues, weiteres Verfahren zu starten, wenn nach Abschluss des ersten Verfahrens erneut sechs Wochen wiederholter oder ununterbrochener Arbeitsunfähigkeit aufgetreten sind. Dies gilt zumindest, wenn die Möglichkeit besteht, dass neue Erkrankungen zu der Arbeitsunfähigkeit geführt haben oder neue, ggf. ergänzende Maßnahmen zu treffen sind, um weitere Arbeitsunfähigkeit zu vermeiden.
Gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX soll – so das Gericht zutreffend – bei gesundheitlichen Störungen mit Zustimmung des betroffenen Arbeitnehmers eine gemeinsame Klärung möglicher Maßnahmen durch alle Beteiligten (Arbeitgeber, betriebliche Interessenvertretung, Schwerbehindertenvertretung, Integrationsamt, gemeinsame Servicestelle sowie Werks- oder Betriebsarzt) erfolgen, um kurzfristig Beschäftigungshindernisse zu überwinden und den Arbeitsplatz durch Leistungen und Hilfen erhalten zu können1. Durch die gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten sollte ein BEM geschaffen werden, das durch geeignete Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft sichert.
Aufgabe des BEM ist es, solche Maßnahmen der Anpassung der Arbeitsmittel oder der Arbeitsorganisation festzustellen, mit denen die Krankheitshäufigkeit verringert und die betrieblichen Auswirkungen von Krankheiten eingedämmt werden können. Damit erhält das BEM eine eigenständige Funktion in der betrieblichen Gesundheitspolitik und passt sich in die präventive Orientierung des heutigen Arbeitsschutzrechts sowie des Rehabilitationsrechts ein.2
Es ist gemäß der über viele Entscheidungen hinweg gefestigten Auffassung des BAG Sache des Arbeitgebers3, die Initiative zur Durchführung des BEM zu ergreifen. Dabei muss er, um ein ordnungsgemäßes und den Anforderungen des Gesetzes entsprechendes BEM durchzuführen, den Arbeitnehmer zunächst nach § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX auf die Ziele des BEM sowie Art und Umfang der dabei erhobenen Daten hinweisen. Der Hinweis erfordert auch eine Darstellung der Ziele, die inhaltlich über eine bloße Bezugnahme auf die Vorschrift des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hinausgeht. Dem Arbeitnehmer muss deutlich werden, dass es um die Grundlagen seiner Weiterbeschäftigung geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch er selbst aktiv Vorschläge einbringen kann. Daneben ist ein Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung erforderlich, der klarstellt, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen dienendes BEM durchführen zu können.4
Im BEM müssen die zu Beteiligenden so einbezogen werden, dass keine vernünftigerweise in Betracht zu ziehende Anpassungs- und Änderungsmöglichkeit ausgeschlossen wird und in dem die von den Teilnehmern eingebrachten Vorschläge sachlich erörtert werden.5 Insbesondere bei einer komplexen Gesundheitsbeeinträchtigung ist es nach Auffassung des LAG Sinn und Zweck des BEM, eine umfassende Sichtung der Situation und der Probleme durchzuführen, welche zu den gehäuften Erkrankungen geführt haben. Der Arbeitgeber ist dabei grundsätzlich verpflichtet, einen Vorschlag, auf den sich die Teilnehmer eines BEM verständigt haben, auch umzusetzen, ehe er eine Kündigung ausspricht.6 Jeder am BEM Beteiligte – auch der Arbeitnehmer – hat es insofern in der Hand, ihm sinnvoll erscheinende Gesichtspunkte und Lösungsmöglichkeiten in das Gespräch einzubringen. Bestehen solche Möglichkeiten, müssen sie es aber auch tun.
Führt das BEM zu dem Ergebnis, dass es keine Möglichkeit gibt, die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden oder künftig zu vermeiden, ist dies ebenfalls bei einer eventuellen krankheitsbedingten Kündigung zu berücksichtigen. Vorschläge, die der Arbeitnehmer schon im BEM hätte machen können, kann er im späteren arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht mehr nachholen.7 Er kann dann nur noch Vorschläge machen, die sich erst nach Abschluss des BEM bis zum Zeitpunkt der Kündigung ergeben haben.8
Das BEM-Verfahren muss insofern ein formales Ende haben. Dieses ist festzustellen, wenn keine (weiteren) Maßnahmen mehr notwendig – erste Maßnahme(n) erscheinen erfolgversprechend – oder möglich sind. Es sollte dann ein Ergebnis festgestellt9 und sinnvollerweise zumindest bei längeren Verfahren ein Abschlussgespräch10 geführt werden.
Das LAG Düsseldorf hat jetzt klar herausgearbeitet, dass mit dem formalen Abschluss eines durchgeführten BEM-Verfahrens der Tag „Null“ für einen neuen Referenzzeitraum von einem Jahr des § 167 Abs. 2 SGB IX ist. Der erste Tag Arbeitsunfähigkeit nach Abschluss des vorausgegangenen BEM ist daher der erste zu zählende Tag, mit der das Kriterium für ein neues BEM-Verfahren – sechs Wochen – zu prüfen ist. Das gilt auch dann, wenn die ersten und die weiteren sechs Wochen des § 167 Abs. 2 SGB IX insgesamt innerhalb von zwölf Monaten festgestellt werden.11 Ein „Mindesthaltbarkeitsdatum“ hat ein BEM nicht. Dem LAG Düsseldorf ist hier ausdrücklich zuzustimmen.
Ausgehend vom Wortlaut des § 167 Abs. 2 SGB IX kann – so das LAG – der Referenzzeitraum von einem Jahr mithin jederzeit beginnen und sich so fortlaufend aktualisieren.12 Ebenso wenig wie die Formulierung „Immer dann, wenn“ enthält, ergibt sich aus dem Normtext eine Einschränkung dahingehend, dass dann, wenn der Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig wird, der Arbeitgeber „einmalig innerhalb eines Jahres“ ein BEM durchzuführen hat.
Ein BEM-Verfahren ist danach erneut durchzuführen, wenn der Beschäftigte nach Abschluss des vorausgegangenen BEM erneut länger als sechs Wochen arbeitsunfähig war.13 Eine Begrenzung der rechtlichen Verpflichtung auf eine nur einmalige Durchführung des BEM im Jahreszeitraum des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen.14 Ist das Ziel des vorausgegangenen BEM nicht erreicht worden (erneute Arbeitsunfähigkeit aus den gleichen Gründen) oder treten auf Grund anderer Erkrankungen neue Zeiten der Arbeitsunfähigkeit auf, die die Schwelle von sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit überschritten, gebietet es der Normzweck mit seinem umfassenden und stärkenden Ansatz, erneut ein BEM durchzuführen, erklärt das LAG Düsseldorf zu Recht.
Besteht jedoch eine Verpflichtung zur Durchführung eines BEM und ist dieses an sich gebotene BEM unterblieben, trifft den Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ein BEM entbehrlich war, weil es wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers unter keinen Umständen ein positives Ergebnis hätte erbringen können. Die detaillierten Ausführungen des Gerichts hierzu sind sehr lesenswert.
Anmerkungen
1 Das LAG verweist hier auf die BT-Drs.15/1783, S.12 zu § 84 Abs. 2 SGB IX a.F. und auf ErfK/Rolfs, 21. Aufl. 2021, § 167 SGB IX, Rn. 4.
2 Kohte, Betriebliches Eingliederungsmanagement und Bestandsschutz, DB 2008, 582.
3 Siehe z.B. das Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 755/13 – BAGE 150, 117–131.
4 BAG, Urt. v. 13.5.2015 – 2 AZR 565/14; 24.03.2011 – 2 AZR 170/10.
5 LAG Köln, Urt. v. 20.11.2013 – 11 Sa 462/13.
6 BAG, Urt. v. 10.12.2009 – 2 AZR 198/09.
7 BAG, Urt. v. 23.4.2008 – 2 AZR 1012/06.
8 BAG,Urt.v.10.12.2009–2AZR400/08.
9 König, Beschäftigtendatenschutz, 1. Auflage 2020, § 5, Das bestehende Beschäftigungsverhältnis, Rn. 148.
10 Stück, Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) – aktuelle Anforderungen in Recht und Praxis, ArbRAktuell 2015, 169.
11 Düwell, in: Dau/Düwell/Joussen, SGBIX, 5.Aufl. 2019, § 167 Rn. 57 zitiert das LAG hier nur mit Einschränkung. Düwell geht davon aus, dass von einer Pflicht des Arbeitgebers, erneut ein BEM anzubieten, ausgegangen werden muss,sobald nach weiteren zwölf Monaten wieder der 43. Kalendertag mit Arbeitsunfähigkeit erreicht ist. Das LAG sieht diese Verpflichtung – wie ausgeführt –auchinnerhalbderzwölfMonate.
12 S.a. ErK/Rolfs, 21. Aufl. 2021, § 167 SGB IX, Rn. 5: „nicht notwendig Kalen-derjahr“; ebenso Greiner, in: Neumann u.a., SGB IX, 14. Aufl. 2020, § 167 Rn. 14; Gutzeit, in:BeckOK Sozialrecht, 58. Edition, § 167 SGB IX, Rn.10.
13 Hinze,Das BEM nach § 84 Abs.2 SGB IX, 2018, S. 176 f.
14 LAG Rheinland-Pfalz 10.1.2017 – 8 Sa 359/16; LAG Hamm 29.5.2018 – 7 Sa 48/18; a.A. wohl Hessisches LAG 17.2.2017 – 14 Sa 690/16.