Prüfauftrag der Integrationsämter bei Entscheidungen im Rahmen des besonderen Kündigungsschutzes für schwerbehinderte Menschen
von Eva Jäger-Kuhlmann, Landesverwaltungsdirektorin, LWL-Inklusionsamt Arbeit
A. Einleitung
Beabsichtigt ein Arbeitgeber, seinen schwerbehinderten Mitarbeitenden zu kündigen, bedarf die Kündigung vorab der Zustimmung des Integrationsamts.
Die gesetzlichen Regelungen, in denen der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen geregelt ist und die für die Entscheidung des Integrationsamts maßgeblich sind, sind nicht gerade üppig. In acht Paragrafen (§§ 168 bis 172 SGB IX) findet man die zugrunde liegenden gesetzlichen Normen.
Der behördlichen Entscheidung liegen unterschiedliche Ermessenstatbestände zugrunde. Will der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis bspw. aus betriebsbedingten Gründen kündigen, sieht der Gesetzgeber verschiedene Fallkonstellationen, wie die Betriebsstilllegung oder die wesentliche Betriebseinschränkung vor, in denen das Ermessen des Integrationsamts aufgehoben oder eingeschränkt ist (§ 172 SGB IX). Auch dann, wenn der Arbeitgeber die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung beantragt und der Kündigungsgrund nicht im Zusammenhang mit der anerkannten Schwerbehinderteneigenschaft steht, soll das Integrationsamt die Zustimmung erteilen (§ 174 Abs. 4 SGB IX). Auch in dieser Fallkonstellation ist das Ermessen des Integrationsamts also eingeschränkt.
Wie sieht die Entscheidung des Integrationsamts aber aus, wenn das Ermessen nicht nach diesen Sonderregelungen gebunden oder eingeschränkt ist? Welche Kriterien legt das Integrationsamt dann seiner Entscheidung zugrunde? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.
Eine Norm, die besagt, wie das Integrationsamt seine Entscheidung in den Fällen, in denen sein Ermessen nicht gebunden ist, trifft, sucht man im SGB IX vergeblich. § 171 Abs. 1 SGB IX bestimmt lapidar, dass das Integrationsamt die Entscheidung, falls erforderlich innerhalb eines Monats aufgrund mündlicher Verhandlung treffen soll.
Einhellige Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ist es, dass die Entscheidung, ob die Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem schwerbehinderten Menschen versagt oder erteilt wird, dann, wenn die gebundenen Ermessensvorschriften nicht greifen, im freien Ermessen des Integrationsamts steht.1
B. Freies Ermessen
I. Freies Ermessen/Grundsätze
Zum Ermessensbegriff trifft § 39 SGB I folgende Regelung:
„Sind die Leistungsträger ermächtigt, bei der Entscheidung über Sozialleistungen nach ihrem Ermessen zu handeln, haben sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten.“ Ermessen beschreibt also die Pflicht der Leistungsträger, eine vom Gesetz offengelassene Rechtsfolge entsprechend dem Zweck der Ermächtigung und unter Abwägung aller sachlich und fachlich maßgeblichen Gesichtspunkte sowie unter Beachtung der rechtlichen Grenzen im Einzelfall zu bestimmen.2 Auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens besteht ein Anspruch. Einen rechtsfreien Raum gibt es bei freiem Ermessen nicht. Die Entscheidung des Integrationsamts wird von den Verwaltungsgerichten aber nur daraufhin überprüft, ob Ermessensfehler vorliegen. Ermessensfehler können einmal darin liegen, dass die Behörde bei der Entscheidung das Ermessen nicht gebraucht hat, also von einer gebundenen Entscheidung ausging oder aber das Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat, bei der Entscheidung also relevante Tatsachen nicht berücksichtigt oder sachfremde Erwägungen zugrunde gelegt wurden.3 Eine eigene Ermessensentscheidung trifft das Verwaltungsgericht nicht.
Mit der Gewährung von Ermessen will der Gesetzgeber dem Integrationsamt also einen Spielraum zu eigener und eigenverantwortlicher Wahl und Entscheidung gewähren. Innerhalb dieses Spielraums können verschiedene, im Einzelfall sogar gegensätzliche Entscheidungen in gleicher Weise rechtmäßig sein. Sinn und Zweck des Ermessens liegen auf der Hand. Die Verwaltung soll bei ihrer Entscheidung den besonderen Umständen und Gegebenheiten des Einzelfalles Rechnung tragen. Denn nicht jeder Fall gleicht dem anderen. Die einzelnen zu entscheidenden Sachverhalte sind vielmehr immer individuell geprägt und müssen dementsprechend immer auch individuell betrachtet werden.4
Nicht von der Hand zu weisen ist, dass diese Handlungsfreiheit dem nach Strukturen und Regelungen strebenden Verwaltungsmenschen in der Praxis oft Schwierigkeiten macht. Was sind die Kriterien, die er seiner Entscheidung zugrunde legen darf? Was sind die Grenzen?
II. Sinn und Zweck des besonderen Kündigungsschutzes des SGB IX
Um die in die Waagschale der Abwägung zu legenden Kriterien zu ermitteln, bedarf es nach den oben dargestellten Grundsätzen zunächst einer Besinnung auf Sinn und Zweck des ermächtigenden Gesetzes. Erst im zweiten Schritt ist eine Abwägung der widersprüchlichen Kriterien vorzunehmen.
Unbestritten ist, dass der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen den Zweck verfolgt, die Nachteile, die ein Mensch mit Schwerbehinderung am Arbeitsplatz erfährt, auszugleichen. Er tritt (außer in Kleinbetrieben) neben den arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz.5
Unbestritten ist auch, dass der schwerbehinderte Mensch durch den besonderen Kündigungsschutz nicht bessergestellt werden soll als sein nicht schwerbehinderter Kollege. Die Entscheidung des Integrationsamts soll die arbeitsgerichtliche Entscheidung nicht vorwegnehmen.6
Zum Zweck des besonderen Kündigungsschutzes für schwebehinderte Menschen hat das Bundesverwaltungsgericht schon im Jahre 1992 in einer mittlerweile vielzitierten Entscheidung ausgeführt: „Die vom Kündigungsrechtsstreit abweichende Art der Abwägung muss deshalb darauf ausgerichtet sein, die schwerbehinderten Beschäftigten vor den besonderen Gefahren, denen sie wegen ihrer Behinderung auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind, zu bewahren. Insbesondere ist sicherzustellen, dass sie gegenüber nicht schwerbehinderten Menschen nicht ins Hintertreffen geraten.“7
Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Leitlinien in seiner jüngsten Entscheidung zur Frage, ob die Versetzung eines schwerbehinderten Lebenszeitbeamten in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit der Zustimmung des Integrationsamts nach § 168 SGB IX bedarf, bestätigt und ausgeführt:
„§§ 168 ff. SGB IX bezwecken danach in erster Linie den Ausgleich der typischerweise geringeren Wettbewerbsfähigkeit schwerbehinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt. (...)“.8
Das Bundesverwaltungsgericht spricht im Weiteren von dem im Schwerbehindertenrecht zum Ausdruck kommenden Schutzgedanken der Rehabilitation, der durch das Gesetz verwirklicht werden soll und erwähnt das Fürsorgeinteresse des schwerbehinderten Menschen. Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Diktion und die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts, die man standardmäßig auch in vielen anderen gerichtlichen Entscheidungen findet, nicht mehr zeitgemäß ist und die Entwicklung des Schwerbehindertenrechts nicht widerspiegelt. Das Schwerbehindertenrecht hat sich unbestritten im Laufe der Jahre von einem Fürsorgegesetz zu einem Teilhabegesetz entwickelt, zuletzt durch das Bundesteilhabegesetz. § 1 SGB IX normiert daher das Recht der schwerbehinderten Menschen auf selbstbestimmte gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.9
Nichtsdestotrotz kann, was den Zweck des besonderen Kündigungsschutzes angeht zusammenfassend festgehalten werden: Der besondere Kündigungsschutz will Nachteile ausgleichen, die dem schwerbehinderten Menschen auf Grund seiner Schwerbehinderung im Arbeitsleben entstehen können. Auch mit der Weiterentwicklung des Schwerbehindertenrechts von einem Fürsorge zum Teilhaberecht hat sich daran nichts geändert.
III. Ermittlung der entscheidungsrelevanten Abwägungskriterien
Die Entscheidung des Integrationsamtes auf Zustimmung zur Kündigung beinhaltet einen Verwaltungsakt mit Doppelwirkung. Je nachdem, ob die Zustimmung versagt oder erteilt wird, begünstigt sie eine Person und belastet die andere. Diese sich konträr gegenüberstehenden Interessen gilt es für die Integrationsämter gegeneinander abzuwägen. Fraglich ist, welche Kriterien überhaupt bei der Abwägung der gegensätzlichen Interessen eine Rolle spielen können.
1. Mögliche Kriterien
a) Unzweifelhaft hat der Arbeitgeber, der einen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung stellt, ein Interesse an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Sein Interesse fußt darauf, wirtschaftlich zu handeln und seinen Betrieb störungsfrei zu führen. In diesem Zusammenhang wird auch die Größe des Betriebes von Belang sein, denn in einem kleinen Betrieb werden sich Störungen stärker auswirken als in einem Großbetrieb und werden schlechter aufzufangen sein. Auch die Leistungsfähigkeit seines Unternehmens ist als ein Kriterium anzusehen, das abwägungsrelevant sein wird, ebenso die wirtschaftliche Lage.10 Zudem hat der Arbeitgeber ein Interesse an der Erhaltung seiner Gestaltungsmöglichkeit.11
b) Das Interesse des schwerbehinderten Arbeitnehmers am Erhalt des Arbeitsplatzes wird stark geprägt sein von den finanziellen Folgen einer Kündigung. In diesem Zusammenhang sind seine Chancen, nach der Kündigung wieder einen anderen Arbeitsplatz zu finden, von besonderem Belang. Dabei spielt neben seiner Schwerbehinderung sicherlich auch sein Alter eine entscheidende Rolle, das es ihm möglicherweise schwer macht, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Auch bestehende Unterhaltsverpflichtungen und sonstige finanzielle Verpflichtungen können eine Rolle spielen. Eine lange Betriebszugehörigkeit kann ebenfalls als ein zu berücksichtigendes Kriterium eingebracht werden.12 Aber auch nichtwirtschaftliche Interessen können in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, da die Teilhabe am Arbeitsleben ein wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Teilhabe ist. Zugunsten des Arbeitnehmers wird auch die Tatsache einzubringen sein, wenn der Arbeitgeber keine präventiven Maßnahmen (insbesondere ein BEM) durchgeführt hat. Denn das hätte dazu führen können, eine Kündigung zu vermeiden.13
c) Daneben kommen aber noch weitere Kriterien in Betracht, die in der Literatur und Rechtsprechung als Interessen der Allgemeinheit oder öffentliche Interessen diskutiert werden, wie bspw. die Erfüllung der Beschäftigungsquote durch den Arbeitgeber bzw. deren Nichterfüllung (siehe dazu unten 2 d).
2. Relevanz der Kriterien für die Abwägung nach dem Schwerbehindertenrecht
Vor dem Hintergrund, dass das Integrationsamt keine arbeitsrechtliche Prüfung vorzunehmen hat und es dementsprechend nicht seine Aufgabe ist, die Sozialwidrigkeit einer Kündigung zu überprüfen, ist fraglich, ob die unter 1. erwähnten Kriterien überhaupt vom Integrationsamt in die Interessenabwägung eingestellt werden können.
Die soziale Rechtfertigung einer Kündigung, die das Arbeitsgericht im arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzverfahren prüft, wird nämlich u.a. anhand der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters des Arbeitnehmers, der bestehenden Unterhaltsverpflichtungen und auch der Schwerbehinderung beurteilt.14 Dies könnte dagegensprechen, diese Kriterien auch dem Verfahren nach §§ 168 SGB IX zugrunde zu legen.
a) Mit der Begründung, dass sich die schwerbehindertenrechtliche Prüfung von der arbeitsrechtlichen unterscheidet und das Verfahren nach dem SGB IX das arbeitsrechtliche Verfahren nicht vorwegnehmen soll, könnte vertreten werden, dass in die Abwägung nur Belange einzustellen sind, die im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung stehen.
Dies könnte aus einigen Ausführungen in der Rechtsprechung herauszulesen sein, wenn dort bspw. ausgeführt wird, dass die Tatsache, dass der schwerbehinderte Mensch aufgrund seines Alters möglicherweise nicht oder nicht sofort eine neue Beschäftigung erhalten wird, im Kündigungsverfahren nach dem SGB IX nicht von (entscheidendem) Belang ist, sondern im zukünftigen Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht zu berücksichtigen ist.15
b) Festzuhalten ist zwar, dass ein Großteil der oben unter 1. aufgeführten, möglichen Abwägungskriterien mit denen identisch ist, die der arbeitsrechtlichen Prüfung zugrunde liegen.
Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, diese Kriterien könnten bei der vom Integrationsamt vorzunehmenden Interessenabwägung keine Berücksichtigung finden. Denn sie lassen sich im Einzelnen nicht immer trennscharf von den schwerbehindertenrechtlichen Interessen abgrenzen. So kann bspw. im Einzelfall das Alter eines Menschen unterschiedlich erheblich für das Interesse am Erhalt des Arbeitsplatzes sein, wenn der Arbeitnehmer schwerbehindert ist. Zudem ist fraglich, welche Kriterien – ließe man für die Abwägung nur Kriterien zu, die im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung stehen – dann im Kündigungsverfahren nach § 168 SGB IX überhaupt abwägungserheblich sein können.
Der unter a) dargestellten Ansicht ist zudem entgegenzuhalten, dass nach ständiger Rechtsprechung nicht das einzelne Abwägungskriterium einen Zusammenhang mit der Schwerbehinderung aufweisen muss, sondern dass sich die Frage des Zusammenhangs mit der Behinderung auf den Kündigungsgrund bezieht und für die Gewichtung der Interessen, also den Abwägungsvorgang, erheblich ist.
Das Bundesverwaltungsgericht führt dementsprechend in seiner jüngsten Entscheidung (siehe oben BVerwG, Urt. v. 7.7.2022 – 2 A 4.21) aus: „Die Aufgabe des Integrationsamtes besteht folglich darin, einen Zusammenhang zwischen Behinderung und Kündigung zu prüfen und ggf. das Auflösungsinteresse des Arbeitgebers einerseits und den Schutz des Schwerbehinderten andererseits im Rahmen einer Interessenabwägung zu gewichten. (...) ist für die dem Integrationsamt obliegende Entscheidung von wesentlicher Bedeutung, ob die beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf Gründe gestützt wird, die in der Behinderung selbst ihre Ursache haben. In diesem Fall sind an die im Rahmen der interessenabwägenden Entscheidung zu berücksichtigende Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber besonders hohe Anforderungen zu stellen (...)“16.
Aus diesen Ausführungen kann geschlossen werden, dass der Zusammenhang mit der Schwerbehinderung nicht schon bei der Frage eine Rolle spielt, ob das Interesse überhaupt im Rahmen der Abwägung herangezogen werden kann, sondern erst im zweiten Schritt bei der Frage, wie die gegenseitigen Interessen zu gewichten sind.
Dies ist auch herrschende Meinung in der Literatur: Überwiegend wird vertreten, dass im Rahmen des freien Ermessens eine umfassende Berücksichtigung aller Gesichtspunkte notwendig sei17 und die der Abwägung im Arbeitsund im Schwerbehindertenrecht zugrunde zu legenden Kriterien sich vermischen und sich nicht trennscharf unterscheiden lassen18.
c) Dass eine strikte Trennung der arbeitsrechtlichen und schwerbehindertenrechtlichen Prüfung nicht konsequent durchgehalten wird, wird auch aus Folgendem deutlich:
Einhellige Meinung in Rechtsprechung und Literatur ist es, dass der Grundsatz, keine arbeitsrechtliche Prüfung im Verfahren nach den § 168 ff. SGB IX jedenfalls dann eine Ausnahme erfährt, wenn die vom Arbeitgeber vorgetragenen Kündigungsgründe nach arbeitsrechtlichen Kriterien offensichtlich keinen Grund für eine Kündigung geben können, die arbeitsrechtliche Kündigung also offensichtlich unzulässig wäre. Denn es ist vom Ergebnis her nicht zu vertreten, wenn das Integrationsamt einer Kündigung zustimmen würde, die vor dem Arbeitsgericht mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Bestand haben würde.19
d) Ob über die privaten Interessen des Arbeitgebers und des schwerbehinderten Arbeitnehmers hinaus in die Abwägung auch das öffentliche Interesse an der Erfüllung der Beschäftigungspflicht gelegt werden kann, wird in der Rechtsprechung unterschiedlich gesehen.
aa) Zum Teil wird vertreten, die Frage, ob der Arbeitgeber die im Interesse der Allgemeinheit stehende Beschäftigungsquote erfülle, könne nicht für die Abwägung im Kündigungsschutzverfahren relevant sein.20
bb) Zum Teil wird die Erfüllung der Beschäftigungspflicht als ein für den Arbeitgeber sprechendes Abwägungskriterium gesehen.21
cc) Schließlich wird die Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht als ein neben anderen Kriterien zu berücksichtigendes Abwägungskriterium gesehen, das zulasten des Arbeitgebers in die Waagschale zu werfen ist. Begründet wird dies damit, dass das Integrationsamt auch im Rahmen des besonderen Kündigungsschutzes die Gesamtinteressen der schwerbehinderten Menschen im Blick haben muss.22
Dieser letztgenannten Ansicht ist zuzustimmen. Nicht die Erfüllung der Beschäftigungspflicht ist ein im Rahmen der Abwägung zu honorierendes Interesse des Arbeitgebers, vielmehr ist die Nichterfüllung ein zu sanktionierendes Interesse. An der Erfüllung dieser Pflicht besteht ein maßgebliches öffentliches Interesse, dessen Wichtigkeit der Gesetzgeber auch dadurch unterstrichen hat, dass er die Nichterfüllung dieser Pflicht nach § 238 Abs. 1 Satz 1 SGB IX (bislang) in den Bußgeldkatalog aufgenommen hat. Die Nichterfüllung dieser Pflicht betrifft auch die Interessen des zu kündigenden Arbeitnehmers als Teil der Allgemeinheit.
Festzuhalten bleibt demnach als Zwischenergebnis, dass zunächst alle Kriterien der Abwägung zugrunde zu legen sind.
IV. Abwägungsvorgang
Sind demnach im ersten Schritt die in die Abwägung einzustellenden Interessen umfassend in die Waagschale zu werfen, so stellt sich die Frage, wie das Integrationsamt den Abwägungsvorgang vorzunehmen hat.
Die für die Abwägung erforderliche Gewichtung setzt zunächst voraus, dass das Integrationsamt den der Kündigung zugrunde liegenden Sachverhalt umfassend aufklärt. Dazu ist es nach § 20 SGB X verpflichtet. Nach dieser Vorschrift hat das Integrationsamt ausgehend vom Antrag des Arbeitgebers von Amts wegen alle maßgeblichen Umstände zu ermitteln, die es für die Entscheidung braucht. Denn nur an einem aufgeklärten Sachverhalt kann eine umfassende Interessenabwägung angesetzt werden. Dies gilt auch dann, wenn der Kündigungsgrund nicht im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung steht.23
Lässt sich der dem schwerbehinderten Arbeitnehmer vorgeworfene Pflichtenverstoß nämlich nicht eindeutig feststellen, steht also der Sachverhalt, der der Interessenabwägung zugrunde zu legen ist, gar nicht fest, ist eine Interessenabwägung gar nicht möglich.
Abwägen bedeutet gemeinhin, sich das pro und contra einer möglichen Entscheidung vor Augen zu halten. Insoweit kann im Rahmen der Abwägung die Entscheidung nicht nur auf ein Kriterium bspw. auf die Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht24, auf eine lange Betriebszugehörigkeit oder sehr hohe Unterhaltsverpflichtungen gestützt werden, vielmehr sind alle Kriterien in die Entscheidung einzubeziehen. Ziel der Abwägung ist es festzustellen, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zuzumuten ist.
In diesem Zusammenhang ist die Frage, ob der vorgetragene Kündigungsgrund im Zusammenhang mit der Schwerbehinderteneigenschaft steht, von entscheidender Bedeutung für den Ausgang der Gewichtung.
Ständige Rechtsprechung und herrschende Meinung in der Literatur ist, dass sich der Schutz des schwerbehinderten Menschen verringert, je weniger ein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Behinderung feststellbar ist.
Besteht ein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Behinderung, sind an die im Rahmen der interessenabwägenden Entscheidung zu berücksichtigende Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber besonders hohe Anforderungen zu stellen, um den im Schwerbehindertenrecht zum Ausdruck kommenden Schutzgedanken der Rehabilitation verwirklichen zu können. Soweit zwischen Kündigung und Behinderung ein Zusammenhang besteht, verschiebt sich die Zumutbarkeitsgrenze also zulasten des Arbeitgebers.
Diese Abwägung kann in Ausnahmefällen sogar zur Verpflichtung des Arbeitgebers führen, den schwerbehinderten Arbeitnehmer trotz der bestehenden Probleme weiter zu beschäftigen (Die Rechtsprechung spricht von „durchzuschleppen“).
Andererseits findet die im Interesse der Fürsorge für den schwerbehinderten Menschen gebotene Sicherung des Arbeitsplatzes auf jeden Fall dort ihre Grenze, wo eine Weiterbeschäftigung des schwerbehinderten Menschen allen Gesetzen wirtschaftlicher Vernunft widersprechen, insbesondere dem Arbeitgeber einseitig die Lohnzahlungspflicht auferlegt würde.25
V. Zusammenfassung
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es demnach dem Integrationsamt obliegt, alle in die Abwägung eingebrachten Kriterien vor dem Hintergrund des Zusammenhangs des Kündigungsgrundes mit der Schwerbehinderung zu gewichten. Besteht ein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Schwerbehinderung, so muss auf Seiten des Arbeitgebers viel vorgetragen werden, um zu einem Abwägungsergebnis zu seinen Gunsten zu kommen.
Besteht kein Zusammenhang mit der Schwerbehinderung ist die Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber nicht so hoch. Das bedeutet im Ergebnis aber nicht, dass die Entscheidung des Integrationsamts in diesen Fällen immer auf eine Zustimmung zur Kündigung hinausläuft.26 Denn anders als bei der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung sieht das SGB IX im Falle des Antrags auf Zustimmung zur ordentlichen Kündigung gerade keine Ermessensreduzierung in dem Sinne vor, dass das Integrationsamt die Zustimmung erteilen soll. Hätte der Gesetzgeber etwas Anderes gewollt, hätte er entsprechend § 174 Abs. 4 SGB IX auch für die ordentliche Kündigung eine Sollvorschrift normiert. Auch wenn die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung bei fehlendem Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Schwerbehinderung in der Praxis eher erteilt wird, kann im Einzelfall bei einer ordentlichen Kündigung auch eine versagende Entscheidung gerechtfertigt sein, wenn die für den Erhalt des Arbeitsverhältnisses sprechenden Kriterien überwiegen.
Anmerkungen
1 So schon BVerwGE 8, 47ff., BVerwG, 5 B 6.83; siehe auch schon Neubert/ Becke, Schwerbehindertengesetz, Handkommentar § 15 Rn. 9; Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, SGB IX Kommentar § 168 Rn. 69ff.; Ernst/Baur/ Jäger-Kuhlmann, SGB IX Kommentar § 168 Rn. 39ff.; Dau/Düwell/Joussen/ Luik, SGB IX, § 172 Rn. 5, Zorn, Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen im Arbeitsleben, S. 170.
2 Vgl. dazu Krahmer/Trenk-Hinterberger, SGB I Kommentar § 39 Rn. 2.
3 Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, Kommentar SGB IX, 5. Aufl., § 168 Rn. 37.
4 Fuchs/Ritz/Rosenow, SGB IX – Kommentar zum Recht behinderter Menschen,7. Aufl. 2021, § 172 Rn. 5.
5 Hess. VGH, Beschl. v. 23.3.2010 – 10 A 1354/097.
6 BVerwG, Urt. v. 19.10.1995 – NZA-RR 1996, 288.
7 BVerwG, Urt. v. 2.7.1992 – 5 C 51.90; siehe auch BVerwGE 90, 287/293 zu § 15 SchwbG und BVerwG, Urt. v. 12.7.2012 – 5 C 16.11 – BVerwGE 143, 325 Rn. 24; VGH München, Beschl. v. 17.3.2010 – 12 ZB 08.2846 – juris, Rn. 6.
8 BVerwG, Urt. v. 7.7.2022 – 2 A 4.21.
9 Siehe dazu im Einzelnen Düwell, Kommentar zum SGB IX; siehe auch Zorn, a.a.O., S. 170.
10 Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, § 168 Rn. 70.
11 BVerwG, Urt. v. 22.5.2013 – 5 B 24.13 – juris, Rn. 12.
12 Knittel, Kommentar zum SGB IX § 85 Rn. 93.
13 Feldes/Kothe/Stevens-Bartol, SGB IX § 168 Rn. 38.
14 Siehe § 1 Abs. KSchG, siehe dazu auch Linck/Krause/Bayreuther, § 1 R. 927ff.
15 So VG Minden, Urt. v. 7.12.2022 – 6 K 840/20, S. 13 nicht rk, zumindest missverständlich auch VG Düsseldorf, Urt. v. 18.3.2014 – 13 K 2979/13 – juris, Rn. 59, wenn es dort heißt, dass „für die Berücksichtigung abwägungserheblicher Umstände ihr Bezug zur Behinderung und ihre an der Zweckrichtung des behindertenrechtlichen Sonderkündigungsschutzes gemessene Bedeutung entscheidend ist.
16 So auch schon BVerwG, Urt. v. 28.2.1968 – V C 33.66; siehe auch VG Düsseldorf, Urt. v. 18.3.2014 – 13 K 2979/13.
17 Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, Kommentar zum SGB IX § 168 Rn. 69; Kaiser/Seidel, br 1996, 9/101. Siehe auch Düwell, Kommentar zum SGB IX § 172 Rn. 6.
18 Fuchs/Ritz/Rosenow/Bloeck, SGB IX § 172 Rn. 12.
19 VGH Hessen, Urt. v. 17.11.1992 – 9 UE 1765/89; Trenk-Hinterberger Handkommentar SGB IX § 88 Rn. 8; Fiebig, in: HakoKSchR §§ 85 – 92 Rn. 31, zur offensichtlichen arbeitsrechtlichen Rechtswidrigkeit siehe auch Kuhlmann, br 2006, 93.
20 HamOVG, Urt. v. 10.12.2014 – 4 Bf 159/12.
21 Hauck/Noftz Griebeling, § 85 Rn. 5; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 28.3.2007 – 6 B 14.06, vgl auch schon Roßmann/Schimanski/Dopatka/Pikullik/ Poppe-Bahr GK SchwbG § 15 Rn. 282 f.), der ausführt, dass insoweit auch zu berücksichtigen sei, ob der Arbeitgeber die Beschäftigungspflicht erfüllt, ggf. auch in welchem Umfang.
22 Die Pflicht, den Umstand der Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht in die Ermessensausübung einzustellen, ergebe sich aus dem primären Zweck der Vorschriften im Zweiten Abschnitt des Schwerbehindertengesetzes (jetzt Teil 3 des SGB IX) auf die Einhaltung der dort normierten Beschäftigungspflicht hinzuwirken. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 7.11. 2003 – 12 A 750/01 – juris, Rn. 49; siehe auch Zorn, a.a.O., S. 172, Dau/Düwell/Joussen/Luik SGB IX § 172 Rn. 5; Feldes/Kothe/Stevens-Bartol SGB IX, § 168, Rn. 38.
23 OVG Nordrhein-Westfahlen, Urt. v. 12.2.2009 – 12 A 3108/08.
24 Siehe dazu Zorn, Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen im Arbeitsleben, S. 173.
25 So BVerwG, Urt. v. 19.10.1995 – 5 C 24.93 – BVerwGE 99, 336/339 m.w.N.; siehe auch BVerwG (2. Senat), Urt. v. 7.7.2022 – 2 A 4.21; Knittel SGB IX, § 85 Rn. 93; Kreitner, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK – SGB IX, 3. Aufl., § 168 SGB IX Rn. 26.
26 So aber wohl VG Minden, Urt. v. 7.12.2022 – 6 K 840/20, das ausführt, dass die Beklagte bei der Neubescheidung zu beachten habe, dass bei verhaltensbedingten Kündigungen, die in keinem Zusammenhang mit der Behinderung stehen, die Zustimmung in der Regel zu erteilen ist.