RICHARD BOORBERG VERLAG

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16.05.2024

Kündigungsschutz

Die Tatkündigung und die Verdachtskündigung in der Bearbeitungspraxis des Integrationsamts

Zugleich eine Besprechung des Urteils des BAG vom 31.1.2019 - 2 AZR 426/18

Für schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Menschen besteht ein besonderer Kündigungsschutz. Nach § 168 SGB IX hat der Arbeitgeber - von den Ausnahmen des § 173 SGB IX abgesehen - vor Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit einem schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen. 

von Ulrike Kayser, Verwaltungsdirektorin a.D., Ettlingen

 

I.   Arbeitsrechtliche Grundlagen

Für schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Menschen besteht ein besonderer Kündigungsschutz. Nach § 168 SGB IX hat der Arbeitgeber - von den Ausnahmen des § 173 SGB IX abgesehen - vor Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit einem schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen. Die Zustimmung ist erforderlich für eine beabsichtigte ordentliche wie auch eine außerordentliche Kündigung. Die Kündigung kann als sogenannte Tatkündigung und/oder als Verdachtskündigung ausgesprochen werden.

1.  Abgrenzung

Bei der Tatkündigung will der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis wegen eines erwiesenen Verstoßes gegen arbeitsvertragliche Pflichten, z.B. die wiederholte Verletzung der betrieblichen Arbeitszeitregeln, kündigen. Ist der Pflichtverstoß gravierend, wird der Arbeitgeber eine Kündigung aus wichtigem Grund, also eine außerordentliche Kündigung in Erwägung ziehen. Sowohl bei der ordentlichen als auch bei der außerordentlichen Kündigung ist arbeitsrechtlich erforderlich, dass der Kündigungssachverhalt nachweislich feststeht. Der Arbeitgeber muss das Vorliegen der streitigen Tatumstände konkret darlegen und beweisen. Gelingt ihm das nicht, wird das Arbeitsgericht einer Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers stattgeben.

Beispiel: Der Arbeitgeber will dem Arbeitnehmer wegen Diebstahls kündigen. Bestreitet der Arbeitnehmer die Tat, wird die Kündigung vor dem Arbeitsgericht nur standhalten, wenn der Arbeitgeber den Diebstahl im arbeitsgerichtlichen Verfahren beweisen kann.

Nicht nur eine erwiesene Vertragsverletzung oder strafbare Handlung, sondern auch der schwerwiegende Verdacht eines Verstoßes gegen arbeitsvertragliche Pflichten (z.B. das Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit) oder der Verdacht einer strafbaren Handlung (z.B. der Verdacht eines Tankkartenmissbrauchs) kann die Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. Nach der gefestigten Rechtsprechung des BAG (BAG, Urt. v. 18.11.1999 - 2 AZR 743/98 - Rn. 14, in: NJW 2000, S. 1211 ff.) liegt eine Verdachtskündigung dann vor, wenn und soweit der Arbeitgeber seine Kündigung damit begründet, bereits der Verdacht eines (nicht erwiesenen) vertragswidrigen bzw. strafbaren Verhaltens habe das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zerstört.

Der durch den Verdacht bewirkte Verlust der vertragsnotwendigen Vertrauenswürdigkeit kann nach der Rechtsprechung des BAG einen Eignungsmangel begründen (BAG, Urt. v. 31.1.2019 - 2 AZR 426/18). Der eigentliche Grund für die Kündigung liegt danach nicht im Verhalten, sondern in der Person des Arbeitnehmers. Er ist wegen des gegen ihn bestehenden Verdachts als Arbeitnehmer auf seinem Arbeitsplatz nicht mehr geeignet. Der durch den Verdacht hervorgerufene Eignungsmangel stellt einen Kündigungsgrund in der Person des Arbeitnehmers dar, auch wenn die den Verdacht und den daraus folgenden Vertrauensverlust begründenden Umstände nicht unmittelbar mit seiner Person zusammenhängen. Die Verdachtskündigung ist nach dieser BAG-Rechtsprechung stets ein Fall der personenbedingten Kündigung (BAG, a.a.O., das Schrifttum folgt verbreitet dieser Auffassung, Nachweise bei BAG, Rn. 21).

Bei der Tatkündigung ist maßgebend, dass der Arbeitgeber bzw. im Kündigungsschutzprozess das Arbeitsgericht davon überzeugt sein müssen, der Arbeitnehmer habe die kündigungsrelevante Pflichtverletzung oder Straftat tatsächlich begangen. Die diese Würdigung tragenden (Indiz-) Tatsachen müssen entweder unstreitig oder bewiesen sein.

Hingegen müssen der Arbeitgeber und das Arbeitsgericht bei einer Verdachtskündigung zu der Überzeugung gelangen, der Arbeitnehmer weise aufgrund des Verdachts einen schwerwiegenden Eignungsmangel auf. Dazu müssen die den Verdacht begründenden (Indiz-)Tatsachen ihrerseits unstreitig sein oder vom Arbeitgeber mit dem nach § 286 Abs. 1 ZPO erforderlichen Grad an Gewissheit bewiesen werden (BAG, a.a.O., Rn. 23).

2.  Verhältnis von Tat- und Verdachtskündigung zueinander

Der Verdacht einer Arbeitsvertragsverletzung oder strafbaren Handlung stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Pflichtverletzung bzw. die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar (BAG, a.a.O., Rn. 20), der im Tatvorwurf nicht enthalten ist.

Der Arbeitgeber muss also eindeutig erklären, ob er die Kündigung als Tat- oder als Verdachtskündigung aussprechen will.

3.  Widerspruch gegen die Unschuldsvermutung?

Die in Art. 6 Abs. 2 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention v. 4.11.1959) verankerte Unschuldsvermutung steht der Zulässigkeit einer Verdachtskündigung nicht entgegen. Diese Vermutung bindet unmittelbar lediglich den Richter, der über die Begründetheit der (strafrechtlichen) Anklage zu entscheiden hat (BAG, a.a.O., zu II 3 c der Gründe). Hingegen können Rechtsfolgen, die - wie die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses - keinen Strafcharakter besitzen, in gerichtlichen Entscheidungen an einen Verdacht geknüpft werden (BAG, a.a.O., Rn. 25).

4.  Voraussetzungen der Verdachtskündigung

Eine Verdachtskündigung kann nach der übereinstimmenden BAG-Rechtsprechung und der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unter folgenden Voraussetzungen gerechtfertigt sein (vgl. BAG, Urt. v. 18.11.1999 - 2 AZR 743/98 - Rn. 14, in: NJW 2000, S. 1211 ff.; VGH Hessen, Urt. v. 21.5.2013 - 10 A 1980/13.Z - www.rehadat-recht.de):

a)  Der Verdacht muss auf konkreten, vom Arbeitgeber darzulegenden und ggf. - mit dem vollen Maß des § 286 Abs. 1 ZPO - zu beweisenden Tatsachen beruhen.

Beispiel konkreter erwiesener Tatsachen zum Tankkartenmissbrauch nach BAG, 2 AZR 426/18:

-    Der Arbeitnehmer setzte die Tankkarte in einem Jahr 89 Mal ein.

-    In 14 Fällen tankte er mehr als 93 Liter (das Füllvolumen des Fahrzeugtanks laut Herstellerangaben).

-    11 der 14 Übertankungen fanden an einem Sonnabend, Sonntag, Feiertag oder während des Urlaubs des Arbeitnehmers statt.

-    88 der 89 Betankungen fanden nicht an internen Tankstellen des Arbeitgebers, sondern an Fremdtankstellen statt.

 

b) Die Verdachtsmomente müssen geeignet sein, das für die Fortführung erforderliche Vertrauen zu zerstören bzw. das Arbeitsverhältnis unerträglich zu belasten.

Das BAG (a.a.O., Rn. 20 ff., insb. Rn. 22) stellt insoweit klar, dass es für die Wirksamkeit einer Verdachtskündigung nicht zwingend erforderlich ist, dass der Arbeitnehmer eine besondere Vertrauensstellung im Betrieb inne hat. Auch die Betriebsgröße sei kein geeignetes Kriterium für die grundsätzliche Zulässigkeit einer Verdachtskündigung. Denn ein gewisses Maß an Vertrauen sei für die Durchführung jedes Arbeitsverhältnisses erforderlich. Der Arbeitgeber müsse sich darauf verlassen können, dass seine Mitarbeiter die Integrität seiner Rechtsgüter, der Rechtsgüter der anderen Mitarbeiter und ggf. Dritter nicht verletzen.

Eine vom Arbeitnehmer inne gehabte besondere Vertrauensstellung sei bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber im konkreten Fall die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zuzumuten ist, in die Abwägung einzustellen (siehe unten unter e).

Das BAG stellt weiter klar, dass bei der ordentlichen Verdachtskündigung keine starre Frist gilt, innerhalb derer der Arbeitgeber das Recht zur ordentlichen Verdachtskündigung ausüben müsste. Allerdings kann ein längeres Zuwarten zu der Annahme berechtigen, die Kündigung sei nicht i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG durch den Verlust des vertragsnotwendigen Vertrauens „bedingt“ (Rn. 30). Daneben kommt eine Verwirkung des Kündigungsrechts nach § 242 BGB in Betracht (Rn. 81).

c)  Der Arbeitgeber muss alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen haben, insb. den Arbeitnehmer anhören und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme geben.

Dabei reicht es nicht, ihn zu einem Personalgespräch einzuladen, ohne ihm den Anlass des Gesprächs mitzuteilen. Dem Arbeitnehmer ist Gelegenheit zu geben, die Verdachtsgründe oder Verdachtsmomente zu beseitigen oder zu entkräften und Rechtfertigungsgründe geltend zu machen, damit der Arbeitgeber sie bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen kann. Diese Anhörung darf mündlich oder schriftlich erfolgen und hat vor Ausspruch der Kündigung zu erfolgen. Dabei geht das BAG von einer Regelfrist von einer Woche aus, die bei Vorliegen besonderer Umstände allerdings überschritten werden kann.

Der Arbeitgeber kann sich bei unterbliebener Anhörung im Arbeitsgerichtsprozess nicht auf den Verdacht eines pflichtwidrigen Verhaltens berufen; die hierauf gestützte Kündigung ist unwirksam (BAG, a. a. O., Rn. 28).

Die mündliche oder schriftliche Anhörung des Arbeitnehmers ist materielle Wirksamkeitsvoraussetzung der Verdachtskündigung (Zorn, Der Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen im Arbeitsleben, 4. Aufl., S. 245). Das bedeutet, dass die ohne Anhörung ausgesprochene Verdachtskündigung auch dann unwirksam ist, wenn die Verdachtsmomente als solche ausgereicht hätten, die Kündigung zu rechtfertigen.

War der Arbeitnehmer jedoch von vornherein nicht bereit, sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen substantiiert zu äußern und so nach seinen Kräften an der Aufklärung mitzuwirken, kann dem Arbeitgeber keine schuldhafte Verletzung der Anhörungspflicht vorgeworfen werden (BAG, Urt. v. 26.9.2002 - 2 AZR 424/01).

d) Der Verdacht muss schwerwiegend und dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft.

In dieser Hinsicht bestehen keine Unterschiede zwischen außerordentlicher und ordentlicher Kündigung. Für beide Kündigungsarten muss der Verdacht gleichermaßen erdrückend sein (BAG, Urt. v. 21.11.2013 - 2 AZR 797/11 – Juris, Rn. 32 ff. = BAGE 146, 303, Rn. 32).

Abzustellen ist arbeitsrechtlich auf den gewonnenen Wissensstand des Arbeitgebers im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs.

e) Dem Arbeitgeber muss aufgrund des Verdachts die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar sein.

Die Interessenabwägung muss zu dem Ergebnis führen, dass das Verhalten, dessen der Arbeitnehmer dringend verdächtig ist, - wäre es erwiesen - sogar eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerechtfertigt hätte (BAG, Urt. v. 18.6.2015 - 2 AZR 256/14 – Juris, Rn. 22).

Die Verdachtskündigung beruht auf der Erwägung, dass dem Arbeitgeber von der Rechtsordnung die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses unter dem dringenden Verdacht auf ein Verhalten des Arbeitnehmers, das ihn - den Arbeitgeber - zur sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses berechtigen würde, nicht zugemutet werden kann. Besteht dagegen der Verdacht auf das Vorliegen eines solchen Grundes nicht, weil selbst erwiesenes Fehlverhalten des Arbeitnehmers die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht rechtfertigen könnte, überwiegt bei der Güterabwägung im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG dessen Bestandsinteresse. In einem solchen Fall nimmt die Rechtsordnung das im Fall einer Verdachtskündigung besonders hohe Risiko, einen „Unschuldigen“ zu treffen, nicht in Kauf (BAG, Urt. v. 21.11. 2013 - 2 AZR 797/11 – Juris, Rn. 32 ff. = BAGE 146, 303).

Ist der Arbeitnehmer eines Verhaltens verdächtig, das selbst als erwiesenes nur eine ordentliche Kündigung zu stützen vermöchte, ist dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses deshalb trotz des entsprechenden Verdachts zuzumuten (BAG, a.a.O.; vgl. auch BAG, Urt. v. 31.1.2019 - 2 AZR 426/18 – Ls. 2).

 

II.  Die Verdachtskündigung im Zustimmungsverfahren vor dem Integrationsamt

1.  Grundsätzliches

Im Zustimmungsverfahren vor dem Integrationsamt, das der Kündigung vorausgehen muss, bereitet die Abgrenzung von Tat- und Verdachtskündigung häufig auch deswegen Schwierigkeiten, weil auch im Fall einer beabsichtigten Tatkündigung im Zeitpunkt der Antragstellung (vgl. § 168 SGB IX) und der Entscheidung des Integrationsamtes der Sachverhalt häufig noch strittig und nicht vollständig aufgeklärt ist, also nur der „Verdacht“ einer Arbeitsvertragsverletzung oder Straftat vorliegt.

Beispiel:

Im Betrieb des Arbeitgebers sind Betriebsmittel abhandengekommen. Der Arbeitgeber verdächtigt den Arbeitnehmer A. Er stellt beim Integrationsamt den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung wegen Diebstahls und trägt vor, er habe aufgrund verschiedener Tatumstände den Verdacht, A. habe die Diebstähle begangen. Arbeitnehmer A. bestreitet die Vorwürfe.

Bei Unklarheit in der Antragsformulierung ist der Arbeitgeber stets zu fragen, welche Kündigung er auszusprechen beabsichtigt. Beabsichtigt er eine Tatkündigung auszusprechen, ist die Zustimmung zu einer Tatkündigung zu erteilen, beabsichtigt er dagegen, eine Verdachtskündigung auszusprechen, ist die Zustimmung zu einer Verdachtskündigung zu erteilen. Der Arbeitgeber ist „Herr“ des Verfahrens, er muss sich bei der Antragstellung festlegen (vgl. oben I. 2. und unten II. 2 a).

Ist die Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung beantragt, ist das Zustimmungsverfahren beschleunigt. Das Integrationsamt muss nach § 174 Abs. 2 SGB IX die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen vom Tag des Eingangs an treffen, anderenfalls gilt die Zustimmung als erteilt. Innerhalb der zweiwöchigen Entscheidungsfrist muss das Integrationsamt im Wege der Amtsermittlung (§§ 20, 21 SGB X) mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln (vgl. § 170 Abs. 2 SGB IX) aufklären, ob der Kündigungsgrund im Zusammenhang mit den anerkannten Funktionsbehinderungen steht. Denn nach § 174 Abs. 3 SGB IX ist das Ermessen bei einer Kündigung, die nicht im Zusammenhang mit der anerkannten Behinderung steht, gebunden; das Integrationsamt soll die Zustimmung erteilen. Es gelten die allgemeinen Regeln. Das Integrationsamt muss sich - auch unter Termindruck - eine eigene Überzeugung von der Richtigkeit der für seine Entscheidung wesentlichen Tatsachen verschaffen (vgl. Zorn, a.a.O., S. 88, S. 292, siehe im Einzelnen unter 2. b).

2.  Prüfungsumfang des Integrationsamts

a)  Selbstständige Zustimmungsverfahren

Tat- und Verdachtskündigung sind selbstständige Kündigungsgründe (siehe oben unter I.). Arbeitsrechtlich kann der Arbeitgeber eine Verdachtskündigung nur aussprechen, wenn er zuvor beim Integrationsamt die Zustimmung zur Verdachtskündigung erwirkt hat. Dies gilt auch umgekehrt: Er kann nicht eine Tatkündigung auf die Zustimmung des Integrationsamts zur Verdachtskündigung stützen. Die Zustimmung zur Verdachtskündigung ist nicht in der Zustimmung zur Tatkündigung als minderer Kündigungsgrund enthalten (vgl. Hess. LAG, Urt. v. 9.7.2021 - 14 Sa 10/21).

Der Arbeitgeber kann wie bei der Tatkündigung auch für eine beabsichtigte Verdachtskündigung die Zustimmung zur ordentlichen und außerordentlichen Kündigung beantragen.

Über die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung ist nach § 168 SGB IX zu entscheiden, über die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung nach § 174 SGB IX. Es gelten die allgemeinen Regeln.

b) Ermittlungsauftrag des lntegrationsamtes

Das lntegrationsamt hat bei einer Verdachtskündigung zu prüfen, ob sich aus den Tatsachenangaben des Arbeitgebers ein dringender Tatverdacht begründen lasst, der Arbeitnehmer habe die Arbeitsvertragsverletzung bzw. die Straftat begangen und dadurch das Vertrauensverhältnis unwiderruflich zerstört. Entscheidend ist die Beurteilung der Tatsachenangaben danach, ob mehr objektive Tatsachen für oder gegen den Verdacht sprechen. Es geht nicht um die Frage, ob nach den vorgetragenen Tatsachen die Begehung der Tat voraussichtlich nachgewiesen werden kann, sondern es geht um die Frage, ob eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Stichhaltigkeit des Verdachts begründet werden kann. Das lntegrationsamt und das Verwaltungsgericht haben nicht die Begehung der Tat, sondern die Plausibilität des Verdachts zu prüfen (VGH Hessen, Urt. v. 21.5.2014 – 10 A 1980/13Z - www.rehadat-recht.de, S. 7).

Nach der Rechtsprechung des BAG ist das Arbeitsgericht bei seiner Prüfung, ob eine Verdachtskündigung gerechtfertigt ist, nicht an die Feststellungen im Strafurteil gebunden, sondern kann den Sachverhalt auch in Hinblick auf die strafbare Handlung eigenständig arbeitsrechtlich bewerten (BAG, Urt. v. 20.8.1997 - 2 AZR 620/96 - NJW 1998, 1171, Rn. 18). Das gilt entsprechend für die Verwaltung und die Verwaltungsgerichtsbarkeit bei der Bewertung der Tatsachen im Zustimmungsverfahren nach § 168 ff. SGB IX.

c)  Antragsfrist, § 174 Abs. 2 SGB IX

Problematisch könnte in Einzelfällen die Antragsfrist nach § 174 Abs. 2 SGB IX sein.

Nach § 174 Abs. 2 SGB IX kann die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen beantragt werden, wobei für die Frist der Eingang des Antrages beim Integrationsamt maßgebend ist. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Für die Kündigung maßgebend ist bei der Verdachtskündigung die Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses. Für den Fristbeginn kommt es also darauf an, wann der Arbeitgeber von den maßgebenden Umständen, die zur Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses führen, Kenntnis erlangt hat. Die Festlegung des Beginns der Frist ist bei der Verdachtskündigung insoweit schwierig, weil die Ereignisse fließend sind und die Aufhellung eines anfangs vagen Verdachts bis zur endgültigen Klarheit häufig nicht ständig voranschreitet.

Hilfreich sind hier die Ausführungen des BAG zur Frist des § 626 Abs. 2 BGB (BAG, Urt. v. 27.1.2011 - 2 AZR 825/09).

Nach der Rechtsprechung des BAG ist für die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem dem Arbeitgeber durch seine Ermittlungen die den Verdacht begründenden Umstände sicher bekannt sind, die ihm die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar machen. Für die Bestimmung des Fristbeginns ist es nach der Rechtsprechung entscheidend, wann dem Arbeitgeber die Tatsachen bekannt sind, die ihn in die Lage versetzen, die notwendige Bewertung vorzunehmen, ob er die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für zumutbar hält oder nicht.

Das BAG führt aus: “Es gibt nicht lediglich zwei objektiv genau bestimmbare Zeitpunkte, zu denen die Frist des § 626 Abs. 2 BGB zu laufen begönne: einen Zeitpunkt für den Ausspruch einer Verdachts-, und einen weiteren für den Ausspruch einer Tatkündigung. Im Laufe des Aufklärungszeitraums kann es vielmehr mehrere Zeitpunkte geben, in denen der Verdacht „dringend“ genug ist, um eine Verdachtskündigung darauf zu stützen. Dabei steht dem Kündigungsberechtigten ein gewisser Beurteilungsspielraum zu (BAG [Senat], Urt. v. 5.6.2008 - 2 AZR 234/07 – Juris, Rn. 22 ff., AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 44 = EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 7).“

Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB beginnt demnach erneut zu laufen, wenn der Arbeitgeber eine neue, den Verdacht der Tatbegehung verstärkende Tatsache zum Anlass für eine Kündigung nimmt. Eine den Verdacht verstärkende Tatsache kann eine Durchsuchung der Staatsanwaltschaft oder die Anklageerhebung im Strafverfahren darstellen, selbst wenn sie nicht auf neuen Erkenntnissen beruht. Der Umstand, dass eine unbeteiligte Stelle mit weiterreichenden Ermittlungsmöglichkeiten, als sie dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen, einen hinreichenden Tatverdacht bejaht, ist geeignet, den gegen den Arbeitnehmer gehegten Verdacht zu verstärken. Der Arbeitgeber kann ihn auch dann zum Anlass für den Ausspruch einer Verdachtskündigung nehmen, wenn er eine solche schon zuvor erklärt hatte. Da die neuerliche Kündigung auf einem neuen, nämlich um die Tatsache der Durchsuchung oder der Anklageerhebung ergänzten Sachverhalt beruht, handelt es sich nicht etwa um eine unzulässige Wiederholungskündigung. Ebenso wenig ist das Recht, eine weitere Verdachtskündigung auszusprechen, mit dem Ausspruch einer ersten Verdachtskündigung verbraucht (BAG, a.a.O., Rn. 19).

Dies hat zur Konsequenz, dass der Arbeitgeber auch beim Integrationsamt für jede weitere Verdachtskündigung, die er auf eine den Verdacht stärkende neue Tatsache stützt, einen neuen Antrag stellen muss. Für diesen neuen Antrag besteht unzweifelhaft das Rechtsschutzbedürfnis; das Integrationsamt kann den Antrag nicht mit der Begründung ablehnen, es habe bereits einmal über die Verdachtskündigung entschieden.

Eine abschließende Bewertung der Tatsachen, aus denen der Arbeitgeber die Kündigungsabsicht herleiten kann, setzt voraus, dass er den schwerbehinderten Menschen anhört.

Arbeitsrechtlich ist es im Falle der Verdachtskündigung erforderlich, dass die Anhörung innerhalb von 1 Woche zu erfolgen hat (siehe oben unter I). Für die Antragsfrist nach § 174 Abs. 2 SGB IX kommt es auf das Einhalten dieser Frist jedoch nicht an. Verletzt der Arbeitgeber die - arbeitsrechtliche - Anhörungsfrist, hört er den Arbeitnehmer also verspätet an und erlangt er erst nach der Anhörung gesicherte Kenntnis vom Kündigungsgrund, ist der Antrag nicht wegen Verletzung der Antragsfrist des § 174 Abs. 2 SGB IX als verspätet zurückzuweisen (siehe aber unten 3.).

Anerkannt von der Rechtsprechung ist darüber hinaus, dass der Arbeitgeber grundsätzlich den Ausgang eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens bzw. eines Strafverfahrens gegen den betroffenen Arbeitnehmer abwarten darf. Für die Dauer dieser Verfahren ist der Fristablauf des § 174 Abs. 2 SGB IX nach der Rechtsprechung gehemmt. Die Ausschlussfrist ist nach BAG in diesen Fällen gewahrt, wenn der Arbeitgeber die außerordentliche Kündigung binnen zwei Wochen seit Kenntniserlangung von der Tatsache der Verurteilung oder des Abschlusses der Verfahren erklärt. Wartet der Arbeitgeber das Ergebnis des Ermittlungs- bzw. Strafverfahrens ab, bindet er sich aber insofern, als er nicht mehr spontan, ohne dass sich neue Tatsachen ergeben hätten, zu einem willkürlich gewählten Zeitpunkt eigene Ermittlungen aufnehmen und zwei Wochen nach Abschluss dieser Ermittlungen kündigen darf.

In den Fällen, in denen der Arbeitgeber den Ausgang eines solchen Verfahrens nicht abwarten will, ist der Antrag grundsätzlich nach § 174 Abs. 2 SGB IX innerhalb von zwei Wochen nach Anhörung des Arbeitnehmers zum Tatverdacht zu stellen. Etwas Anderes gilt, wenn der Arbeitgeber glaubhaft geltend macht, er habe aufgrund anderer Umstände, die erst nach Anhörung des Verdächtigten auftraten, sichere Kenntnis für die die Verdachtskündigung begründenden Umstände erhalten. Denn Fristbeginn ist der Eintritt der abschließenden Bewertung der Verdachtsgründe und des dadurch ausgelösten Vertrauenswegfalls. Der Arbeitgeber muss insofern plausible Gründe für die Behauptung des Vertrauenswegfalls zu einem bestimmten Zeitpunkt anführen.

3.  Versagung wegen offensichtlicher arbeitsrechtlicher Unwirksamkeit

Materiell-rechtlich kann das Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung versagen, wenn die beabsichtigte Kündigung offensichtlich arbeitsrechtlich unwirksam wäre. Dies gilt auch, wenn das Integrationsamt nach § 174 Abs. 4 SGB IX die Zustimmung wegen fehlenden Zusammenhangs des Kündigungsgrundes mit der Schwerbehinderteneigenschaft erteilen soll.

Das wäre beispielsweise der Fall, wenn sich der Verdacht auf ein Verhalten des zu kündigenden Arbeitnehmers bezieht, das offensichtlich ungeeignet ist, die für die Zusammenarbeit notwendige Vertrauensbasis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu zerstören oder aber wenn der Arbeitgeber offensichtlich keinerlei objektive Indizien für den ausgesprochenen Verdacht hat. Aber auch dann, wenn die erforderliche Anhörung des Arbeitnehmers offensichtlich nicht oder offensichtlich verspätet durchgeführt wurde, läge eine arbeitsrechtlich offensichtlich rechtswidrige Kündigung vor, mit der Folge, dass das Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung versagen müsste.

 

Quelle:
Behinderung und Recht (br). Fachzeitschrift für Inklusion, Teilhabe und Rehabilitation, Heft 3/2024 S.64-68