RICHARD BOORBERG VERLAG

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15.11.2021

Teilhabeleistungen

Die (Nicht-)Gewährung des Mehrbedarfs gem. § 42 b Abs. 2 SGB XII für Werkstattbeschäftigte auf ausgelagerten Arbeitsplätzen und in Außenarbeitsgruppen der Werkstätten für behinderte Menschen

Bundesweit sind rund 20 000 ausgelagerte Arbeitsplätze  sowie rund 17 000 sozialräumliche Arbeitsplätze gemeldet  

Mit ausgelagerten Arbeitsplätzen wird die Hoffnung verbunden, WfbM-Beschäftigten den Weg in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ebnen. Der Einsatz auf ausgelagerten Arbeitsplätzen soll Werkstattbeschäftigten „die Möglichkeit bieten, berufspraktische Kenntnisse und soziale Kompetenzen zu erlangen, die für ein späteres sozialversicherungspflichtiges Arbeitsver- hältnis auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von Vorteil sein können“.

1. Einleitung

Personen, die wegen Art und Schwere ihrer körperlichen, geistigen und/oder seelischen Beeinträchtigung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder einer Arbeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nachkommen können, haben gemäß §§ 219 Abs. 2, 220 Abs. 1 SGB IX1 unter den dort genannten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Im Jahr 2019 waren bundesweit im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich der Werkstätten 29 044 sowie im Arbeitsbereich 268 239 Menschen tätig. Unter Hinzurechnung der 18 921 Menschen im Förderbereich gemäß § 219 Abs. 3 SGB IX waren damit insgesamt rund 316 204 Menschen in WfbM tätig.2 Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in WfbM umfassen Maßnahmen, um die Leistungs- und Erwerbsfähigkeit der Menschen mit Behinderung zu erhalten, zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen, die Persönlichkeit dieser Menschen weiterzuentwickeln und ihre Beschäftigung zu ermöglichen, § 56 SGB IX. Der WfbM liegt ein ganzheitliches Förderkonzept zu Grunde.3 Die Aufgaben der Werkstatt im Arbeitsbereich sind vielfältig, vgl. § 5 der Werkstättenverordnung (WVO). So wird z.B. geregelt, dass arbeitsbegleitende Maßnahmen wie besondere Übergangsgruppen, individuelle Förderpläne, Trainingsmaßnahmen und Betriebspraktika und nicht zuletzt die Beschäftigung auf ausgelagerten Arbeitsplätzen durchzuführen sind.4

a) Gemeinschaftliches Mittagessen für Werkstattbeschäftigte

„Integraler Bestandteil“ der Förderung in WfbM ist das Angebot eines gemeinsamen Mittagessens an die Werkstattbeschäftigten. Der tagesstrukturierende Ablauf in einer WfbM beinhaltet „die Einnahme eines gemeinsamen Mittagessens im Sinne eines arbeitspädagogischen und arbeitstherapeutischen Eingliederungsinstruments (...), weil erst hierdurch die sinnvolle und individuell gestaltete Arbeit auf Arbeitsplätzen, die den Bedürfnissen, Interessen und Neigungen der behinderten Erwachsenen entsprechen, gewährleistet wird. Die Einnahme des Mittagessens ist vom typischen Tagesablauf im Arbeitsleben umfasst, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Werkstatt nach Maßgabe von § 6 WVO sicherzustellen hat, dass die behinderten Menschen im Berufsbildungs- und Arbeitsbereich wenigstens 35 und höchstens 40 Stunden wöchentlich beschäftigt werden können. Das Mittagessen muss deshalb im Tagesablauf von den geistig behinderten Menschen ebenso wie die eigentliche Erwerbstätigkeit erlernt und zur Erhaltung der erworbenen Fähigkeiten ständig ‚geübt‘ werden. (...)“ Das gemeinsam eingenommene Mittagessen (dient) „nicht zuletzt der Erhaltung der Arbeitskraft und bei geistig behinderten Menschen der Arbeitsbereitschaft.“5

 

b)  Ausgelagerte Arbeitsplätze und Außenarbeitsplätze

Zu den Aufgaben der WfbM gehört es gemäß § 219 Abs. 1 Satz 3 SGB IX, den Übergang geeigneter Personen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt durch geeignete Maßnahmen zu fördern. Gemäß § 219 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gehören daher zum Angebot einer WfbM an Berufsbildungs- und Arbeitsplätzen auch ausgelagerte Plätze. Ausgelagerte Arbeitsplätze, die auch als „Betriebsintegrierte Beschäftigung“ bezeichnet werden, meint die von der WfbM begleitete Arbeit von Werkstattbeschäftigten außerhalb der anerkannten Räumlichkeiten der Werkstatt in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes.6 Der Rechtsstatus als beschäftigter Mitarbeiter7 der WfbM in einem „arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis“ gemäß § 221 Abs. 1 SGB IX und somit auch die Verantwortung der WfbM bleiben dabei bestehen. Trotz Fortbestandes der rechtlichen Anbindung des Menschen mit Behinderung an die Werkstatt findet eine faktische Einbindung in die Abläufe und Strukturen des externen Beschäftigungsgebers statt.8 Die auf ausgelagerten Arbeitsplätzen beschäftigten Menschen mit Behinderung sind sowohl für die Schwerbehindertenvertretung des Beschäftigungsbetriebs als für die Wahl des Werkstattrats der Stamm-WfbM berechtigt.9 Die Beschäftigten werden an ihrem ausgelagerten Arbeitsplatz von Mitarbeitern der Werkstatt begleitet. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind zu vielfältig, um erschöpfend beschrieben werden zu können. Die Arbeitsplätze können gem. § 219 Abs. 1 S. 6 SGB IX sowohl dauerhaft als auch befristet und sowohl als Einzel- als auch als Gruppenarbeitsplatz angelegt sein.

Mit ausgelagerten Arbeitsplätzen wird die Hoffnung verbunden, WfbM-Beschäftigten den Weg in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ebnen. Der Einsatz auf ausgelagerten Arbeitsplätzen soll Werkstattbeschäftigten „die Möglichkeit bieten, berufspraktische Kenntnisse und soziale Kompetenzen zu erlangen, die für ein späteres sozialversicherungspflichtiges Arbeitsver- hältnis auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von Vorteil sein können“.10 Nicht nur der Erwerb entsprechender Kompetenzen und Fähigkeiten, sondern auch die Einbindung in Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes und in deren „soziales und produktionsspezifisches Geschehen“ können ein Weg zu Eingliederung und Teilhabe und damit letztlich auch zu mehr Inklusion sein.11 Die Menschen mit Behinderung lernen Betriebsabläufe in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes kennen. Sie erhalten die Möglichkeit, sich in einem Kollegenkreis aus Menschen mit und ohne Behinderung sozial zu integrieren. Arbeitgeber des allgemeinen Arbeitsmarktes hingegen erhalten die Chance, den Einsatz von Menschen mit Behinderung als gewinnbringend und zukunftsträchtig zu erfahren. Dies wird als „Scharnierfunktion für eine Übernahme auf den allgemeinen Arbeitsmarkt“ gesehen. Betrieben und Beschäftigten wird ein gegenseitiges Kennenlernen „unter normalen betrieblichen Bedingungen“ außerhalb des Werkstattsettings ermöglicht.12

Im Unterschied zu ausgelagerten Arbeitsplätzen bezieht sich der Begriff der Außenarbeitsplätze oder sozialräumlichen Arbeitsplätze auf Dienstleistungen der WfbM, die durch Werkstattgruppen („Außenarbeitsgruppen“) außerhalb der Werkstatträumlichkeiten erbracht werden. Dies ist etwa beim Garten- und Landschaftsbau oder bei Reinigungsdienstleistungen der Fall.

Nach aktuellen Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. (BAG WfbM) wurden zuletzt bundesweit rund 20 000 (7,6 %) ausgelagerte Arbeitsplätze (einzeln oder in Gruppen) sowie rund 17 000 (6,4 %) sozialräumliche Arbeitsplätze gemeldet.13 Überregionale statistische Zahlen über die genauere Ausgestaltung sind – abgesehen von einzelnen Projekten – nicht bekannt. Die Quote derer, die von diesen Arbeitsplätzen den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (eher) bewältigen, ist höher als bei den in der WfbM beschäftigten Menschen mit Behinderung.14

 

2. Problemstellung

a) Mehrbedarf gemäß § 42 b Abs. 2 SGB XII für Bezieher von Grundsicherung

Zur Gewährleistung ihres soziokulturellen Existenzminimums erhalten viele Werkstattbeschäftigte neben ihrem Werkstattentgelt Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (§§ 41 ff. SGB XII), die sog. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die Kosten dieser Sozialleistung trägt der Bund, sodass die Umsetzung der Normen durch die Länder in Bundesauftragsverwaltung erfolgt, vgl. Art. 104 a Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG). Die Grundsicherung beinhaltet gemäß § 42 SGB XII u.a. den Regelsatz nach der entsprechenden Regelbedarfsstufe der Anlage zu § 28 SGB XII, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und zusätzliche Bedarfe gemäß §§ 30 bis 33 SGB XII. Im Zuge der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG)15 sind seit dem 1.1.202016 neue Mehrbedarfe hinzugekommen. Dazu gehört in Folge der sog. Trennung von Fach- und existenzsichernden Leistungen ein neuer Mehrbedarf für die Mehraufwendungen für eine gemeinschaftliche Mittagsverpflegung in einer WfbM, bei einem anderen Leistungsanbieter gemäß § 60 SGB IX oder im Rahmen vergleichbarer anderer tagesstrukturierender Angebote, § 42 b Abs. 2 SGB XII17. Grundsicherungsleistungen beziehende Werkstattbeschäftigte erhalten demgemäß einen Zuschlag zum Regelsatz, um davon die Kosten für das gemeinsame Mittagessen entrichten zu können. Der Mehrbedarf wird gem. § 42 b Abs. 2 Satz 3 SGB XII pro Arbeitstag gewährt. Er entspricht einem Dreißigstel des Betrags, der sich nach § 2 Abs. 1 Satz 2 der Sozialversicherungsentgeltverordnung (SvEV) bemisst. 2020 waren dies 3,40 € und 2021 3,47 € pro Arbeitstag. Dieser arbeitstägliche Betrag soll dem Umstand Rechnung tragen, dass sich die im Regelsatz bzw. in den Regelbedarfsstufen enthaltenen Ernährungsausgaben auf eine häusliche Ernährung beziehen und daher deshalb keine über den Warenwert der Lebensmittel hinausgehenden Verbrauchsausgaben für eine außerhäusliche Ernährung beinhalten. Der zusätzliche Kostenaufwand einer außerhäuslichen Verpflegung für Zubereitung und Bereitstel- lung umfasst Kosten für Einkauf, Lagerung von Lebensmitteln, Zubereitung der Speisen und Servieren, auf das Spülen entfallende sowie kalkulatorische Kostenbestandteile für Investitionen oder Miete bzw. Pacht für die genutzten Räumlichkeiten wie Küche, Vorratsraum, Speiseraum und Ähnliches.18

Laut der Begründung im Gesetzentwurf zum Bundesteilhabegesetz soll(te) ab 1.1.2017 „das Mittagessen von rund 151 000 Eingliederungshilfebeziehern in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) dem Lebensunterhalt und damit der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zugeordnet“ werden.19 Damalige „Eingliederungshilfebezieher“ sind nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit heutigen „Grundsicherungsbeziehern“. Man wird daher diese Zahl nur bedingt zugrunde legen und vorsichtig schätzen können, dass etwa die Hälfte der Werkstattbeschäftigten Grundsicherung wegen Erwerbsminderung erhält und damit grundsätzlich einen Anspruch auf den Mehrbedarf haben kann.

b) Auffassung des BMAS zur Gewährung des Mehrbedarfs

Die Gewährung des Mehrbedarfs für Werkstattbeschäftigte auf ausgelagerten oder sozialräumlichen Arbeitsplätzen stieß auf Grund des Wortlauts des § 42 b Abs. 2 SGB XII und der engen Auffassung des für die Grundsicherung zuständigen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zur Anwendbarkeit der Norm von Anbeginn auf Probleme. Kern des Problems ist, dass die vorgenannten Werkstattbeschäftig- ten oftmals mittags nicht in die Stamm-WfbM zurückkehren und daher nicht an der Verpflegung in der WfbM teilnehmen (können). Je nachdem, ob und wie sie sich mittags anderweitig verpflegen, scheidet die Gewährung des Mehrbedarfs aus, wobei offenbar Grundsicherungsämter ihren Beurteilungsspielraum durchaus unterschiedlich nutzen. Das BMAS sah sich auch auf Grund von Anfragen aus den Ländern jedenfalls genötigt, in mehreren Rundschreiben vom 28.10.2019, 6.2.2020 und 21.2.2020 Stellung zu nehmen und quasi „häppchenweise“ seine Rechtsauffassung zur Auslegung der Norm zu liefern. Darüber hinaus gibt es Rundschreiben und Verwaltungsanweisungen auf Landes- und kommunaler Ebene. Das Problem ist in Ansehung der seit März 2020 bestehenden und gegenwärtig noch andauernden pandemischen Lage aus dem Blickfeld geraten, könnte aber bald wieder verstärkt in den Fokus rücken. Aus der pandemischen Lage ergaben sich dagegen grundsätzliche Fragen zum Mehrbedarf, die Gegenstand mehrerer Rund- bzw. Informationsschreiben vom 23.3.2020, 31.3.2021 und 9.4.2020 waren.

Im Rundschreiben vom 28.10.201920 verwies das BMAS zunächst auf die bereits aus der Gesetzesbegründung zum BTHG bekannten Erwägungen zur Einführung des Mehrbedarfs21, um hernach im Näheren auf einzelne Voraussetzungen für die Gewährung des Mehrbedarfs einzugehen. Demnach komme es darauf an, ob es sich um ein gemeinschaftliches Mittagessen handelt und dass den leistungsberechtigten Personen bei der Inanspruchnahme des gemeinschaftlichen Mittagessens (Mehr-)Aufwendungen für das gemeinschaftliche Mittagessen entstehen. Es müsse sich um ein Mittagsangebot handeln, das „in der Verantwortung einer WfbM bzw. eines anderen Leistungsanbieters oder im Rahmen vergleichbarer tagesstrukturierender Maßnahmen gemeinschaftlich bereitgestellt und eingenommen“ werde. Eine entsprechende Ergänzung der ursprünglich zum 1.1.2020 vorgesehenen Normfassung um den seither geltenden § 42 b Abs. 2 Satz 2 SGB XII war kurz zuvor durch das Starke-Familie-Gesetz erfolgt.22 Die Ergänzung umfasst als 2. Alternative darüber hinaus eine gemeinschaftliche Mittagsverpflegung, die durch einen Kooperationsvertrag zwischen Leistungserbringer (WfbM oder anderem Leistungsanbieter) und einem für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung an einem anderen Ort Verantwortlichen vereinbart ist. Laut dem Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend soll mindestens eine enge Abstimmung zwischen dem Leistungserbringer und dem die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung Durchführenden erfolgen. Dies erfordert grundsätzlich eine organisatorische Beteiligung des Leistungserbringers, um eine genaue Abstimmung zu ermöglichen. Im Ergebnis soll gewährleistet werden, dass das Ziel einer regelmäßig gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung und somit die Ausgabe und Einnahme der Mahlzeiten in der Gemeinschaft erreicht und der gewünschte sozialintegrative Aspekt umgesetzt wird.23

Was unter „Verantwortung der WfbM“ im Sinne des § 42 b Abs. 2 Satz 2, Alt. 1. SGB XII zu verstehen ist, blieb nach dem genannten BMAS-Rundschreiben im Vagen. Es wurde lediglich eine klare Abgrenzung zum Mittagessen im häuslichen Umfeld bzw.  in der besonderen Wohnform gemäß § 42 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII vorgenommen. Ein Abstellen allein darauf, ob die gemeinsame Mahlzeit in den Räumlichkeiten der WfbM eingenommen wird oder nicht, konnte nicht gemeint sein, was letztlich im Rundschreiben des BMAS vom 21.2.202024 klargestellt wurde. Letztlich geht es wohl bei beiden Tatbestandsalternativen um eine irgendwie geartete Organisations- oder Bereitstellungsleistung der WfbM.25

Die „Verantwortung“ der WfbM präzisierte das BMAS im Rundschreiben vom 6.2.202026 dahingehend, dass diese selbst gegenüber dem Werkstattbeschäftigten vertraglich verpflichtet sein müsse, gegen Entgelt ein Mittagessen bereitzustellen. Auch auf das Merkmal der „gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung“ kam das BMAS konkretisierend zurück. Dies setze zunächst ein Angebot einer zentralen Mittagsverpflegung in Räumlichkeiten voraus, in denen es in Gemeinschaft eingenommen werden könne, die für Menschen mit Behinderung zugänglich und für die Einnahme ihres Mittagessens geeignet seien. Diese Bedingungen würden in einer barrierefreien Kantine oder Mensa erfüllt, da das Mittagessen dort typischerweise gemeinsam mit Kollegen eingenommen würde und auch hinreichend Sitzplätze für Assistenzkräfte etc. vorhanden sein dürften. Dass die Werkstattbeschäftigten in der Kantine oder Mensa nicht unter sich blieben, sondern gemeinsam mit anderen Kollegen essen gingen, sei integrationspolitisch gewollt und stünde ihrem Anspruch nicht entgegen. Ausdrücklich nicht als gemeinschaftliche Mittagsverpflegung anerkannt wurde der Fall der Selbstversorgung, also, „wenn die leistungsberechtigte Person sich selbst individuell versorgt und ihr Mittagsessen z.B. eigenständig in einem Supermarkt, einem Imbiss oder auswärtigen Restaurant einkauft“. Ungeklärt bleibt nach diesem Rundschreiben des BMAS, was gelten soll, wenn der Werkstattbeschäftigte regelmäßig zusammen mit nichtbehinderten Kollegen z.B. einen Imbiss aufsucht, was zumindest integrationspolitisch besonders erwünscht sein müsste. Im Übrigen mag zwar grundsätzlich anzuerkennen sein, dass die Einnahme des Mittagessens möglichst in barrierefrei zugänglichen Räumlichkeiten erfolgen möge. Indessen verhält sich die Norm zu einer solchen Voraussetzung überhaupt nicht. Überdies wird deutlich, dass durchaus eine gewisse Praxisferne zur tatsächlichen Situation der Menschen vor Ort zu bestehen scheint, jedenfalls soweit Werkstattbeschäftigte, die auf ausge- lagerten oder auf Außenarbeitsplätzen tätig sind, in den wenigsten Fällen auf Barrierefreiheit angewiesen sein dürften. Offenbar kam es umgehend zu Nachfragen aus den Ländern, denn schon mit Datum vom 21.2.2020 schob das BMAS das oben bereits erwähnte Rundschreiben nach und relativierte die Ausführungen zu geeigneten Räumlichkeiten. Das Mittagessen könne auch gemeinsam im Freien oder am Arbeitsplatz eingenommen werden.

Mit Eintritt der pandemischen Lage im März 2020 und der angeordneten Schließung der Werkstätten stellten sich grundsätzliche Fragen zur (Weiter-)Gewährung des Mehrbe- darfs für alle Werkstattbeschäftigten, was hier nur kurz Erwähnung finden soll. Das BMAS orientierte im Rundschreiben vom 23.3.2020 die Landessozialbehörden zunächst dahingehend, dass mit Schließung der Werkstätten und Wegfall der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung die entsprechenden Bewilligungsbescheide aufzuheben seien.27 An dieser Auffassung hielt das BMAS in einem Informationsschreiben vom 31.3.202028 fest, um im folgenden Rundschreiben vom 9.4.202029 zu einer differenzierteren Betrachtungsweise zu gelangen. In der Praxis zeigte sich, dass Betretungs- und Betreuungsverbote für die Werkstätten nicht generell galten und Ausnahmen griffen, indem bspw. systemrelevante Beschäftigungsbereiche geöffnet bleiben durften oder Werkstätten eine Notbetreuung für Werkstattbeschäftigte in verkleinerten Gruppen an verschiedenen Orten anbieten und jeweils weiterhin ein Mittagessen zur Verfügung stellen durften. In diesen Fällen sollte daher weiterhin von einem Mehrbedarf ausgegangen werden. Eine gesteigerte Prüfungspflicht der Grundsicherungsämter vor Ort sah das BMAS nicht.30

 

3. Schlussfolgerungen

a) Stellungnahme

Zu den Voraussetzungen für die Gewährung des Mehrbedarfs bzw. zu zentralen Tatbestandsmerkmalen der Anspruchsgrundlage liegen nach der obigen Darstellung bislang zumindest teilweise widersprüchliche bzw. unklare Ausführungen seitens des BMAS vor, die mehrfach nachgebessert werden mussten. Das Agieren des BMAS wirkt bis dato nicht ganz souverän. Ein schlüssiges Konzept für den Mehrbedarf scheint zu fehlen und eine gewisse Praxisferne vorzuliegen. Es ist davon auszugehen, dass weiterhin Klärungsbedarf besteht und entstehen wird, dem das BMAS zu begegnen haben wird. Die Praxis der Grundsicherungsämter vor Ort ist nach wie vor durchaus unterschiedlich. Dies mag maßgeblich an den sehr unterschiedlichen Fallgestaltungen im Hinblick auf die Art von ausgelagerten und Außenarbeitsplätzen, die Entfernung zur Stamm-WfbM, die Möglichkeiten der WfbM zur Organisation einer gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung außerhalb der Werkstatträumlichkeiten und weiteren Faktoren liegen. Probleme entstehen besonders bei ausgelagerten Einzelarbeitsplätzen im ländlichen Raum oder im größeren urbanen Umfeld. Dort haben Werkstattbeschäftigte mittags keine vom Zeitaufwand her realisierbare Möglichkeit, in die Werkstatt zurückzukehren. Die ausgelagerten Arbeitsplätze sind vielfach über ein größeres Einzugsgebiet verteilt. Ein ausreichendes Beförderungsangebot vor Ort steht zumeist nicht zur Verfügung. Für die WfbM selbst oder die derzeit praktisch noch kaum relevanten anderen Anbieter gemäß § 60 SGB IX dürften im Hinblick auf den Auf- oder Ausbau weiterer, externer Strukturen zur Verpflegung der weit verstreut auf ausgelagerten oder Außenarbeitsplätzen tätigen Werkstattbeschäftigten kaum Anreize vorliegen.

Daneben haben die externen Beschäftigungsgeber häufig nicht die personellen und sächlichen Kapazitäten, um eine gemeinschaftliche Mittagsverpflegung in ihrem Betrieb sicherzustellen, sodass für die Stamm-WfbM der Abschluss von Kooperationsverträgen i.S.v. § 42 b Abs. 2 Satz 1, Alt. 2. SGB XII keine realisierbare Option darstellt. Möchten sich die betroffenen WfbM-Beschäftigten vergleichbar mit den Kollegen in der Werkstatt mit einer warmen Mittagsmahlzeit verpflegen, sind sie daher auf Mittagsangebote in nahe gelegenen Gaststätten, Imbissen oder dergleichen angewiesen. Sie haben damit wie ihre Kollegen in der WfbM besondere Auf- wendungen für eine außerhäusliche Ernährung zu tragen, nur eben den Nachteil, dass sie als Einzelfallbetroffene aus dem Regelungsbereich der Norm „herausfallen“. Die nicht einheitliche Handhabung ist für die leistungsberechtigten Personen unbefriedigend und kaum nachvollziehbar. Die un- einheitliche Rechtsanwendung vor Ort und die teils unklaren Ausführungen auf Bundesebene negieren, dass das Mittagessen nach der Rechtsprechung des BSG integraler Bestandteil der WfbM-Leistung ist. WfbM-Beschäftigte sowohl auf ausgelagerten als auch auf Außenarbeitsplätzen sind wie ihre Kollegen in der Werkstatt Leistungsempfänger einer einheitli- chen Werkstattleistung. Auch vor dem Hintergrund des Sozialstaatsprinzips und dem damit verbundenen Auftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist es zweifel- haft, die Anwendbarkeit einer für Werkstattbeschäftigte im Grundsicherungsbezug zentralen Norm den zufällig eintretenden Gegebenheiten vor Ort preiszugeben. Das BSG hat in der eingangs erwähnten Entscheidung zum Werkstatt-Mittagessen als integralem Bestandteil der Werkstattleistung bereits 2008 klargestellt, dass es keine länderspezifischen Besonderheiten bei der Frage, was Eingliederungshilfe und was Lebensunterhalt sei, geben könne. Es liege keine Auslegung von Landesrecht, sondern „die Abgrenzung des Leistungsinhalts bundesrechtlicher Normen“ vor.31

 

b) Zur Normauslegung durch das BMAS

Soweit sie angesichts der aufgezeigten Widersprüchlichkeiten nachvollziehbar ist, liegt die vom BMAS vertretene Auffassung zur Auslegung der Vorschrift in Ansehung der Vorgabe des Gesetzgebers im Wortlaut des § 42 b SGB XII nahe. Danach ist eine Gewährung des Mehrbedarfs bei WfbM-Beschäftigten auf ausgelagerten Arbeitsplätzen und bei Außenarbeit von Fall zu Fall tatsächlich schwierig zu begründen. Die enge Auslegung durch das BMAS korrespondiert auch durchaus mit der strengen Systematik und Dogmatik der lebensunterhaltsregelnden Vorschriften im SGB II und SGB XII. In diesem Zusammenhang können allerdings inhaltliche Parallelen zu ähnlichen Regelungen in Bezug auf eine gemeinschaftliche Mittagsverpflegung, etwa im Kita- und Schulbereich, nur eingeschränkt gezogen werden. Die im Interesse von Kindern bedürftiger Eltern durch den Staat geförderte gemeinschaftliche Mittagsverpflegung in Kita und Schule ist nach ihren tatbestandlichen Voraussetzungen deutlich einfacher klar abzugrenzen. Es dürfte der Lebenswirklichkeit entsprechen, dass eine kita- oder schuleigene bzw. -nahe Verpflegung der Kinder angeboten wird bzw. werden kann. Wie oben aufgezeigt, ist derartiges im Bereich der Werkstätten, die gesetzlich dazu verpflichtet sind, eine Bandbreite an Beschäftigungsplätzen, darunter auch außerhalb der Werkstatträumlichkeiten, vorzuhalten, nicht ohne Weiteres möglich.

Die Nichtgewährung des Mehrbedarfs in diesen Fällen wird der Lebenswirklichkeit der Betroffenen, dem Telos der Vorschrift, einer teilhabefreundlichen Auslegung und der Förderung des Überganges auf den ersten Arbeitsmarkt nur unzureichend gerecht. Konterkariert wird zunächst die erwünschte Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.32

Daneben handelt es sich um eine finanzielle Schlechterstellung der Menschen mit Behinderung im Vergleich mit der alten Rechtslage. Im Zuge des Inkrafttretens der 3. Reformstufe des BTHG zum 1.1.2020 wurde das Recht der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII in das SGB IX überführt. Nach der bis zum 31.12.2019 geltenden Rechtslage war die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung in toto Teil der bis dahin noch im SGB XII geregelten Eingliederungshilfeleistung.33 Auch für Werkstattbeschäftigte auf Außenarbeitsplätzen erhielten die WfbM die Vergütungspauschale für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung, die dann – ggf. bei Nichtteilnahme am Mittagessen in der Werkstatt – an die Werkstattbeschäftigten als „Verpflegungsgeld“ ausgezahlt wurde. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Bereitschaft betroffener Menschen mit Behinderung zum Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt über den Weg von ausgelagerten Arbeitsplätzen oder Außenarbeitsplätzen durch die damit einhergehende finanzielle Schlechterstellung gebremst wird. Es geht immerhin um einen monatlichen Betrag von derzeit rund 66 Euro bei werktäglicher Teilnahme am Mittagessen bei einer 5-Tage-Woche. Möchte man die betroffenen Werkstattbeschäftigten nicht lediglich auf die Mitnahme einer „Brotzeit“ verweisen, die juristisch nachvollziehbar nicht dem Anwendungsbereich der Norm unterfällt, besteht das Erfordernis für eine Mittagsverpflegung außer Haus. Eine solche außerhäusliche Verpflegung zur Erhaltung der eigenen Leistungsfähigkeit während eines in der Regel 8 Stunden dauernden Arbeitstages wird jedoch unbestritten nicht im Regelsatz der Grundsicherung abgebildet (s.o.). Er- kennt man den Mehrbedarf im Einzelfall nicht an, liegt eine gleichheitswidrige Ungleichbehandlung und eine Schlechterstellung zu den Kollegen in der WfbM vor, die dort ein Mittagessen erhalten, das über den Mehrbedarf finanziert wird.

Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gewährt den Menschen mit Behinderung ein subjektives Recht auf Abwehr behinderungsbedingter Benachteiligungen.34 Danach liegt eine diskriminierende Benachteiligung bspw. bei sich verschlechternden Regelungen und Maßnahmen als auch bei einem Ausschluss behinderter Menschen von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten, der nicht durch Förderungsmaßnahmen hinlänglich kompensiert wird, vor. Menschen mit Behinderung, die sich auf ausgelagerten Arbeitsplätzen und in Außenarbeitsgruppen vergleichbar ernähren möchte, haben nach den Gegebenheiten vor Ort oftmals keine andere Möglichkeit als auf Kantinen, Imbissbuden usw. zurückgreifen (s.o.). Dies ist mit einem erhöhten finanziellen Aufwand verbunden, der im Regelsatz nicht berücksichtigt und für die Betroffenen in Ansehung der finanziellen Situation vielfach auch kaum leistbar ist. Nach Art. 27 Abs. 1 der UN- BRK35 erkennen die Vertragsstaaten das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit an. Dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt und angenommen wird. Die Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit. Die Bundesrepublik hat die UN-BRK ratifiziert. Die Konvention gilt damit seit 26.3.2009 im Rang eines einfachen deutschen Bundesgesetzes.36 Diesen Vorgaben wird die Nichtgewährung des Mehrbedarfs für Menschen mit Behinderung auf ausgelagerten oder Außenarbeitsplätzen nur unzureichend gerecht. Die Lebenssituation der Menschen mit Behinderung in WfbM und insbesondere derjenigen, die über einen ausgelagerten oder einen Außenarbeitsplatz den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen möchten, ist eine andere, als die der an- deren nach dem SGB XII grundsicherungsberechtigten Personengruppen. Für diese Personengruppen gibt es prinzipiell kein zwingendes Erfordernis, sich am Ort einer Beschäftigung zu verpflegen, weil bei ihnen zumeist keine regelmäßige Beschäftigung vorliegen dürfte. Grundsicherung nach dem SGB XII erhält gem. §§ 19 Abs. 1, 27 Abs. 1 SGB XII, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten kann. Dabei sind Personen, die nach SGB II als Erwerbsfähige oder Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, ausgeschlossen. Auch bei diesen Personen dürfte in der Regel kein regelmäßiger, werktäglicher Bedarf an einer außerhäuslichen Verpflegung vorliegen.

Es entsteht zumindest der Eindruck, als hätte der Gesetzgeber des BTHG die Situation der WfbM-Beschäftigten, die außerhalb von WfbM tätig sind, im Gesetzgebungsverfahren nicht hinreichend im Blick gehabt. Trotz kritischer Verlautbarungen aus der Praxis seit Einführung der Regelung ist bislang die Chance zu Korrekturen nicht ergriffen worden. Mit der Verabschiedung des Bundes-Teilhabestärkungsgesetzes37 hätte aktuell hierzu die Gelegenheit bestanden. Diese Gelegenheit ist ungenutzt verstrichen.

Nicht zuletzt zeigt sich in der beschriebenen Problematik auch eine der negativen Kehrseiten der sog. Trennung der Fachleistung von den existenzsichernden Leistungen, weil im strengen System des SGB XII Aspekte, die im Rahmen der Eingliederungshilfe relevant sind, nicht oder nicht genügend zum Tragen kommen können und eine „Gleichbehandlung“ der Menschen mit Behinderung mit nichtbehinderten Grundsicherungs- bzw. Sozialhilfeempfängern stattfindet, die man mindestens als Verlust einstiger privilegierender Regelungen bewerten muss. Nicht ausreichend berücksichtigt wird für die Lösung der vorstehenden Problematik die grundsätzliche, eingangs genannte Wertung des BSG zum zentralen Stellenwert des Mittagessens im Tagesablauf der Werkstattbeschäftigung. Zwar wird der Aspekt der Gemeinschaftlichkeit der Mittagsverpflegung im Gesetzeswortlaut aufgenommen. Daneben kommen aber der tagesstrukturierende Effekt und das Üben der regelmäßigen Einnahme des Mittagessens an sich sowie die Aspekte der Erhaltung der Arbeitskraft und bei Menschen mit geistiger, aber auch psychischer Behinderung, auch der Arbeitsbereitschaft nicht hinreichend zum Tragen. Zudem wird die auf Ganzheitlichkeit angelegte Werkstattleistung durch die rechtssystematisch begründete „Ausgliederung“ der lebensunterhaltsichernden Leistungen „aufgespalten“. Es steht rechtlich außer Frage, dass auch bei einer Beschäftigung auf einem ausgelagerten Arbeitsplatz das Werkstattverhältnis bestehen bleibt und dass die Beschäftigung trotz räumlicher Distanz dem Verantwortungsbereich der Werkstatt zugerechnet wird. Warum dies nicht auch generell für ein typischerweise im Kontext der Beschäftigung eingenommenes Mittagessen gelten soll, bleibt ungeklärt.

 

4.  Ausblick

Abhilfe für die hier geschilderte Problematik zu schaffen, ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers. Eine zügig mögliche, vorübergehende Lösung mag in einer großzügigen Handhabung der Regelungen bzw. vorläufigen Anweisung zu einer weiten Auslegung der Vorschrift zum Mehrbedarf unter bestimmten Voraussetzungen liegen. Auch könnte auf entsprechenden Antrag im Einzelfall hin eine abweichende Festsetzung des Regelsatzes wegen einer vergleichbaren Bedarfslage zu erwägen sein.

Der Gesetzgeber hat in der Pandemie vielfach unter Beweis gestellt, dass korrigierende Eingriffe mit einem hinreichenden politischen Willen durchaus möglich sind. In § 142 Abs. 2 SGB XII wurde durch das Sozialschutzpaket II, Art. 1738 geregelt, dass im Februar 2020 anerkannte Mehrbedarfe nach § 42 b Absatz 2 auch für den Zeitraum 1.5.2020 bis 31.12.2020 und unter bestimmten Voraussetzungen auch darüber hinaus anerkannt werden und vom Erfordernis einer Gemeinschaftlichkeit der Mittagsverpflegung als auch der Verantwortung des Leistungserbringers hierfür abgesehen werden kann, § 142 Abs. 2 Satz 3 SGB XII.39 Diese Regelung ist zuletzt mit Beschluss des Bundestages über das Fortbestehen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite bis zum 31.12.2021 verlängert worden.40 D.h. losgelöst von der hier in Rede stehenden Problematik um die Bewilligung des Mehrbedarfs für Werkstattbeschäftigte auf Außenarbeitsplätzen und ausgelagerten Arbeitsplätzen entsteht zumindest für die WfbM-Beschäftigten in Werkstätten, die pandemiebedingt nicht am Arbeitsplatz tätig werden können, kein wirtschaftlicher Nachteil. Dies ist in Ansehung der ordnungsrechtlichen Einschränkungen des Werkstattbetriebs über Betretungsverbote etc. aus den Corona-Bekämpfungsverordnungen und den pandemiebedingten Rückschritten bei der Teilhabe der Menschen mit Behinderung41 auch geboten. Bemerkenswert im Zusammenhang mit der im Beitrag erläuterten Problematik ist der Verzicht auf die Gemeinschaftlichkeit der Mittagsverpflegung und Essenseinnahme in der Verantwortung des Leistungserbringers als zentralen Tatbestandsmerkmalen der Norm dennoch.

Auch in Bezug auf weitere Regelungen wurde die Entschlossenheit zu einem schnellen und sachgerechten Eingreifen im Bereich der Arbeits- und Sozialordnung u.a. zur Sicherung der sozialen Infrastruktur illustriert. In diesem Zusammenhang sei z.B. an das Sozialdienstleistereinsatzgesetz (SodeG)42 als Teil des Sozialschutzpakets gedacht, wonach Dienstleister nach den SGB Zuschüsse erhalten können, wenn sie die vertraglich vereinbarte Leistung nicht mehr oder nicht mehr vollständig erbringen können und dadurch in ihrem Bestand gefährdet sind, vgl. § 2 Satz 1 SodEG.43

Zeitlich mag eine entsprechende Korrektur zu befristen sein bis zur bevorstehenden Reform des Entgeltsystems in Werkstätten, die zum Ziel hat, „... innerhalb von vier Jahren unter Beteiligung der Werkstatträte, der BAG WfbM, der Wissenschaft und weiterer maßgeblicher Akteure zu prüfen, wie ein transparentes, nachhaltiges und zukunftsfähiges Entgeltsystem entwickelt werden kann“. Ziel dieser Reform soll sein, ein Entgelt zu ermöglichen, das aus dem Bezug unterhaltssichernder Leistungen hinausführt. Damit könnten derzeit noch Grundsicherungsleistungen beziehende Werkstattbeschäftigte in Zukunft in der Lage sein, ihr arbeitstägig auswärts eingenommenes Mittagessen aus eigener Tasche zu erwirtschaften, so wie Werkstattbeschäftigte, die eine Rente wegen voller Erwerbsminderung erhalten und damit schon jetzt Selbstzahler sind. Die hier geschilderte Problematik wäre damit obsolet.

 

Anmerkungen

* Die Autorin Erdmann ist Rechtsanwältin und Justitiarin der FLEK-Gruppe, eines Verbundes von vier freigemeinnützigen Leistungserbringern der Eingliederungshilfe in Schleswig-Holstein. Der Autor Jarosch ist Gewerkschaftssekretär bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, ver.di, Landesbezirk Hamburg. Der Beitrag stellt ausschließlich die persönlichen Auffassungen der Autoren dar.

 

1             Neuntes Buch Sozialgesetzbuch.
2             https://www.bagwfbm.de/page/25, zuletzt abgerufen am 14.6.2021.
3             BSG, Urt. v. 9.12.2008 – B 8/9b SO 10/07 R – juris, Rn. 19.
4             Vgl. Cramer, Werkstätten für Menschen mit Behinderung, § 5 WVO, Rn. 38 m.w.N.
5             BSG, a.a.O., juris, Rn. 20; dazu: Luik, jurisPR-SozR 21/2009 Anm. 2; BSG, Urt. v. 1.4.1993 – 7/9b RAr 16/91.
6             Jacobs, in: Dau/Düwell/Joussen, SGB IX, 5. Aufl. 2019, § 219 Rn. 8 m.w.N.; Vgl. SG Berlin, Urt. v. 30.10.2008 – S 60 AL 753/07 – juris, Rn. 15.
7             Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Die entsprechenden Begriffe beziehen sich im Sinne der Gleichbehandlung auf alle Geschlechter. Eine Wertung ist damit nicht verbunden.
8             Jacobs, a.a.O.
 
9             Düwell, in: Dau/Düwell/Joussen, SGB IX, 5. Aufl. 2019, § 177, Rn. 13; LAG München, Beschl. v. 28.5.2014 – 8 TaBV 34/12; dazu: Kohte, Neuer Beschluss zum Wahlrecht bei der SBV-Wahl – Wahlrecht von Werkstattbeschäftigten an ausgelagerten Arbeitsplätzen anerkannt; Forum B, Beitrag B17-2014 unter www.reha-recht.de m.w.N., zuletzt abgerufen am 14.6.2021.
10           Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (2017), docplayer.org/ 61272972-Ausgelagerte-arbeitsplaetze-im-rahmen-von-werkstaetten-fuer- behinderte-menschen.html, zuletzt abgerufen am 14.6.2021.
11           Jacobs, SRa 2013, 193.
12           A.a.O, Fn. 10, Satz 5.
13           Die Zahlen basieren auf Angaben von rund 88 % der Mitglieder der BAG WfbM, Auskunft von Philipp Hirth, Referent Politische Kommunikation bei der BAG WfbM, vom 10.5.2021 (auf E-Mailanfrage).
14           Nach der Kurzfassung des Abschlussberichts der Landesinitiative „Teilhabe an Arbeit – 1.000 Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen“ in den Landschaftsverbänden Westfalen-Lippe und Rheinland in 2015 waren es bei diesem Projekt 2,6 % gegenüber 0,3 % der in der WfbM beschäftigten Menschen mit Behinderung, die den Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt bewältigten; https://www.lwl.org/lwl-download/Inklusionsportal/Arbeit/BfA/Aussen- arbeitsplaetze/Kurzfassung_Abschlussbericht_Landesinitiative.pdf, S. 26, zuletzt abgerufen am 14.6.2021.
15           Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen v. 23.12.2016, BGBl. I S. 3234 ff.
16           Zu Neuerungen durch das BTHG ab 1.1.2020: Siefert, ZAP 2020, 359.
17           Die Vergütung für die Bereitstellung der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung war bis dahin Teil einer vom zuständigen Sozialhilfeträger als vormaligem Träger der Eingliederungshilfe an die WfbM geleisteten Gesamtvergütung für die Werkstattleistung, die u.a. sowohl die Sachaufwendungen für Lebensmittel (Warenwerte) als auch die Aufwendungen für Zubereitung und Bereitstellung des Essens (bspw. Personal, Investitionskosten) umfasste. Die Lebensmittelaufwendungen sind nunmehr dem System der existenzsichernden Leistungen gemäß SGB XII zugeordnet, die darüber hinausgehenden Aufwendungen der WfbM der Fachleistung gemäß SGB IX, vgl. § 113 Abs. 4 SGB IX.
18           Vgl. BTHG-Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 18/9522, S. 327.
19            A.a.O., S. 210.
20           Siehe https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/w/files/aktuelles/19-10-28-rund- schreiben-zu-c-42b-abs-2-sgb-xii.pdf, zuletzt abgerufen am 14.6.2021.
21           Siehe oben Ziffer 2.a).
22           Gesetz zur zielgenauen Stärkung von Familien und ihren Kindern durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags und die Verbesserung der Leistungen für Bildung und Teilhabe (Starke-Familien-Gesetz – StaFamG), vom 29.4.2019, BGBl. I S. 530.
23           Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucks. 19/7504, BT-Drucks. 19/8613, S. 29.
24           Siehe https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/w/files/aktuelles/20-02-21-mit- tagessen-aussenarbeitsplatz-antwort-rueckfrage-.pdf, zuletzt abgerufen am 10.6.2021.
25           Mit der WfbM bzw. dem Leistungserbringer wäre dann vor Ort durch den zuständigen Grundsicherungsträger im Einzelfall zu klären, ob bei einer Beschäftigung auf einem ausgelagerten oder Außenarbeitsplatz die Voraussetzungen für die Gewährung des Mehrbedarfes erfüllt sind.
26           https://beb-ev.de/wp-content/uploads/2020/02/BMAS-Mehrbedarf-auf- ausgelagerten-Arbeitsplaetzen.pdf, zuletzt abgerufen am 14.6.2021.
27           Siehe https://beb-ev.de/wp-content/uploads/2020/03/200323_BMAS-Mehrbe- darf-Schliessung-WfbM-Covid2.pdf, zuletzt abgerufen am 13.6.2021.
28           Siehe https://fragdenstaat.de/dokumente/9507-rd202007a/, zuletzt abgerufen am 11.6.2021.
29           Siehe https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/w/files/aktuelles/20-04-09-wfbm-mehrbedarf-erg-hinweise.pdf, zuletzt abgerufen am 14.6.2021.
30           Zur pandemiebedingten Sonderregelung des § 142 SGB XII, eingeführt durch das Sozialschutzpaket II v. 20.5.2020, siehe unten Gliederungspunkt 4.
31           BSG, a.a.O, Fn. 3, juris, Rn. 17.
32           Siehe oben 1 b).
33           Fn. 17.
34           BVerfG, Beschl. v. 8.10.1997 – 1 BvR 9/97 – BVerfGE 96, 288/302.
35           Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006, BGBl. 2008 II, S. 1419.
36           BSG, Urt. v. 6.3.2012 – B 1 KR 10/11 R – BSGE 110, 194 ff.
37           Gesetz zur Stärkung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen sowie zur landesrechtlichen Bestimmung der Träger von Leistungen für Bildung und Teilhabe in der Sozialhilfe (Teilhabestärkungsgesetz), BGBl. I S. 1387; dazu: Dü- well, jurisPR-ArbR 22/2021 Anm. 1.
38           Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) vom 20.5.2020, BGBl. I S. 1055 ff./1059.
39           Dazu: Leopold, jurisPR-SozR 11/2020 Anm. 1; Groth, jurisPR-SozR 7/2020 Anm. 1.
40           Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Feststellung des Fortbestehens der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, BT-Drucks. 19/30398.
41           Grupp, Hahn: Menschen mit Behinderungen in der Corona-Krise: Expertinnen und Experten beantworten aktuelle Fragen online – Zusammenfassung der Diskussion im Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ Teil II (7.4. bis 3.5.2020); Beitrag D19-2020 unter www.reha-recht.de; zuletzt abgerufen am 13.6.2021.
42           Sozialdienstleister-Einsatzgesetz vom 27.3.2020 (BGBl. I S. 575/578).
43           Dazu: Tabbara, NZS 2020, 837.
 

 

Quelle:
Behinderung und Recht, Fachzeitschrift für Inklusion, Teilhabe und Rehabilitation, Heft 6/2021 S. 150-155