RICHARD BOORBERG VERLAG

×

23.09.2021

Corona

Das Zustimmungserfordernis zu betriebsbedingten Kündigungen bei eingeschränktem Ermessen der Integrationsämter

– eine reine Formsache?

Die nun schon seit Anfang letzten Jahres andauernde Pandemie mit den langen Phasen von Lockdowns hat zwangsläufig viele Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht.

von Eva Jäger-Kuhlmann, Landesverwaltungsdirektorin, LWL-Inklusionsamt Arbeit

A.  Einleitung

Noch sind die Insolvenzen der Unternehmen nicht so stark gestiegen wie befürchtet. Trotz der verschiedenen staatlichen und gesetzgeberischen Maßnahmen, die die Unternehmen stützen sollen, ist davon auszugehen, dass viele Unternehmer ihre Betriebe schließen oder aber zumindest wesentlich einschränken werden müssen.

Es ist deshalb zu erwarten, dass sich die Integrationsämter in den kommenden Monaten mit dem Thema „betriebsbedingte Kündigungen“ verstärkt auseinandersetzen müssen. Aufgrund der hohen Aktualität ist dies ein Anlass, das Thema aufzugreifen und einer genaueren Betrachtung zuzuführen. Insbesondere soll deutlich gemacht werden, dass der Prüfungsumfang für die Integrationsämter trotz des in diesen Fällen eingeschränkten Ermessens nicht unerheblich ist.

 

B.   Allgemeine Ausführungen zum Prüfungsumfang der Integrationsämter

Jeder Arbeitgeber, der einen Menschen mit Schwerbehinderung kündigen will, muss beim zuständigen Integrationsamt die vorherige Zustimmung einholen (§§ 168 ff. SGB IX). Eine ohne Zustimmung des Integrationsamts ausgesprochene Kündigung ist nichtig. Über den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung trifft das Integrationsamt eine Ermessensentscheidung.

Der Prüfungsumfang des Integrationsamts orientiert sich am Sinn und Zweck des besonderen Kündigungsschutzes für Menschen mit Schwerbehinderung. Dessen Sinn ist es, die behinderungsbedingten Nachteile eines Menschen mit Schwerbehinderung im Arbeitsleben auszugleichen. Nicht dagegen sollen die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit Schwerbehinderung durch den besonderen Kündigungsschutz gegenüber den Kollegen und Kolleginnen ohne Schwerbehinderung bevorzugt werden. Es ist allgemein anerkannt und unbestritten, dass der besondere Kündigungsschutz nach dem SGB IX nicht den Zweck verfolgt, dem schwerbehinderten Menschen eine zweite zusätzliche Kontrolle der arbeitsrechtlichen Wirksamkeit einer Kündigung zu verschaffen (vgl. schon Bay. VGH, Urt. v. 18.3.2009 – 12 B 08. 3327 – AE 2009 S. 261 ff.). Es ist deshalb nicht Aufgabe der Integrationsämter, die Sozialwidrigkeit einer Kündigung im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG zu prüfen. Die Prüfung der allgemeinen sozialen Belange obliegt vielmehr den Arbeitsgerichten (vgl. auch Kuhlmann, Prü- fungsumfang des Integrationsamts bei betriebsbedingten Kündigungen, br 2010, S. 7 ff.).

Für den Prüfungsumfang der Integrationsämter ist es maßgeblich, ob zwischen dem vom Arbeitgeber vorgetragenen Kündigungsgrund und der anerkannten Schwerbehinderteneigenschaft ein Zusammenhang besteht. Ist dies der Fall, soll durch die Mittel des Schwerbehindertenrechts versucht werden, den Arbeitsplatz des Menschen mit Schwerbehinderung unter Abwägung der Interessen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers zu erhalten. Besteht kein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und der anerkannten Schwerbehinderteneigenschaft, ist der Prüfungsumfang der Integrationsämter eingeschränkt. Dies hat auch das OVG NRW im Beschluss vom 26.10.2020 (12 A 3861/18 – abgedruckt in diesem Heft S. 132 ff.) dargelegt, indem es ausgeführt hat, „beachtlich im Rahmen der Ermessensentscheidung seien demzufolge insbesondere die Gründe, die einen Zusammenhang zwischen Schwerbehinderung und Kündigung annehmen lassen. Leitlinie der Ermessensentscheidung sei es nämlich, sicherzustellen, dass der schwerbehinderte Mensch gegenüber anderen Arbeitnehmern nicht benachteiligt wird. Bei einer Betriebsstillegung trete der Sonderkündigungsschutz erkennbar zurück, weil es in diesem Fall regelmäßig an einem Zusammenhang zwischen Kündigung und Schwerbehinderung fehle und eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers durch das Zustimmungsverfahren nach Möglichkeit vermieden werden soll (so auch BVerwG, Urt. v. 30.9.2009, 5 C 32.08; OVG Brandenburg, Beschl. v. 17.10.2003 – 4 B 59/03).“

 

C.   Prüfungsumfang bei Betriebsstillegungen

Ungeachtet der Tatsache, dass der Sonderkündigungsschutz bei einer Betriebsstilllegung nach einhelliger Meinung erkennbar zurücktritt, kann der Arbeitgeber die Kündigung seines schwerbehinderten Arbeitnehmers dann, wenn er beabsichtigt, den kompletten Betrieb einzustellen, dennoch nicht ohne Zustimmung des Integrationsamts aussprechen.

 

I.   Betriebsstillegung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 SGB IX

1.  Dem fehlenden Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und anerkannter Behinderung hat der Gesetzgeber in diesen Fällen allein dadurch Rechnung getragen, dass er in § 172 Abs. 1 Satz 1 SGB IX das Ermessen des Integrationsamts stark, nämlich auf null, eingeschränkt hat. Nach dieser Vorschrift erteilt das Integrationsamt die Zustimmung in Betrieben und Dienststellen, die nicht nur vorübergehend eingestellt oder aufgelöst werden, wenn zwischen dem Tag der Kündigung und dem Tag, bis zu dem Gehalt oder Lohn gezahlt wird, mindestens drei Monate liegen. Das Fehlen eines Ermessens bedeutet für die Integrationsämter nicht, dass sie einem Antrag auf Zustimmung zur Kündigung wegen einer Betriebsstilllegung ohne weitere Prüfung stattgeben müssen. Zunächst ist seitens der Behörde nämlich immer zu prüfen, ob der Arbeitgeber tatsächlich beabsichtigt, den Betrieb stillzulegen. Dies setzt voraus, dass er die ernsthafte und endgültige Entscheidung getroffen hat, die gesamte Betriebs- und Produktionstätigkeit für einen seiner Dauer nach unbestimmten, wirtschaftlich nicht unerheblichen Zeitraum aufzugeben. Dies wird von Seiten der schwerbehinderten Arbeit- nehmer häufig in Frage gestellt. Dann hat das Integrationsamt diesen streitigen Sachverhalt aufzuklären. Anhaltspunkte für eine Stilllegungsabsicht können ein dahingehender Gesellschafterbeschluss oder eine Massenentlassungsanzeige sein. Der Frage, ob ein Betriebsübergang nach § 613 a BGB vorliegt, hat das Integrationsamt dagegen nicht nachzugehen. Es handelt sich auch hierbei um eine rein arbeitsrechtliche Frage, deren Prüfung den Arbeitsgerichten vorbehalten bleibt (siehe im Einzelnen: Kuhlmann, br 2010, 7 f.).

2.  Aber auch dann, wenn das Integrationsamt eine ernsthafte Stilllegungsabsicht des Arbeitgebers ermittelt hat, stimmt es dem Antrag nicht einfach zu. Eine Zustimmung zur Kündi- gung nach der eingeschränkten Ermessensentscheidung des § 172 Abs. 1 Satz 1 SGB IX kommt nämlich nur dann in Betracht, wenn zwischen dem Tag der Kündigung und dem Tag, bis zu dem Lohn oder Gehalt gezahlt wird, mindestens drei Monate liegen. Diese sogenannte Drei-Monats-Klausel soll gewährleisten, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer noch mindestens für drei Monate Geld erhält. Diesem Lohn- anspruch gleichgestellt werden nach herrschender Auffassung Lohnersatzleistungen, wie bspw. der Bezug von Krankengeld (LAG Düsseldorf, Urt. v. 6.9.1989 – 11 Sa 782/89; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 3.12.2004 – 11 K 1489/03; Knittel, Komm. zum SGB IX, § 89 Rn. 19; Neumann, in: Neumann/Pahlen/ Greiner/Winkler/Jabben, § 172 Rn. 16). Nicht gleichgestellt werden Arbeitslosengeld oder Insolvenzgeld.

Da das Integrationsamt im Zeitpunkt seiner Entscheidung über den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung nicht prüfen kann, ob dem Arbeitnehmer tatsächlich später nach Ausspruch der Kündigung noch Lohn bzw. Gehalt bezahlt werden wird, kann für die Entscheidung des Integrationsamts nur auf einen Anspruch auf die entsprechende Lohnfortzahlung abgestellt werden. Andernfalls würde die Regelung des § 172 Abs. 1 Satz 2 SGB IX zumindest im Erstverfahren für die Integrationsämter leerlaufen. Insoweit ist die o.g. Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts missverständlich, wenn dort ausgeführt wird, dem Kläger sei darin beizupflichten, dass die gesetzliche Regelung in § 89 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F. nicht auf eine Zusage des Arbeitgebers gegenüber dem Integrationsamt abstellt, sondern auf den Umstand, dass nach der Kündigung noch drei Monate Lohn oder Gehalt gezahlt wird. Dem Integrationsamt steht es aber frei, seine Entscheidung mit der Nebenbestimmung zu erlassen, dass die 3-monatige Lohnzahlung erfolgt (siehe dazu VG Bayreuth, Urt. v. 11.6.2007 – B 3 K 05.142, nach dem das Integrationsamt seine Ermessensbindung nicht eigenständig dadurch herbeiführen kann, dass es die ermessensbindenden Tatbestandvoraussetzungen gegen die erkennbare Willensrichtung des Arbeitgebers durch die Aufnahme einer Lohnfortzahlungsauflage in den Zustimmungsbescheid selbst schafft; siehe auch BAG, Urt. v. 12.7.1990 – 2 AZR 35/90 – br 1991, 68, nach dem durch Auslegung zu ermitteln ist, welche Nebenbestimmung das Integrationsamt aussprechen wollte. Auch wenn im Bescheid eine Bedingung formuliert ist, könne die Auslegung des Bescheides dazu führen, dass tatsächlich eine Auflage gemeint sei).

Ist keine Nebenbestimmung formuliert, behält die Zustimmung zur Kündigung nach überwiegender Meinung auch dann ihre Wirksamkeit, wenn im Anschluss später die drei Monate Gehaltszahlungen nicht erbracht werden (siehe auch Düwell, in: LPK-SGB IX, § 172 Rn. 58; LAG Köln, Urt. v. 18.1.2018 – 7 Sa 791/17 – br 2018, 124). Eine einmal erteilte Zustimmung hat für den arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzprozess Tatbestandswirkung. Die Arbeitsgerichte sind nicht befugt, in eigener Regie die Zustimmung des Integrationsamts auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen.

3.  Im Rahmen des § 172 Abs. 1 Satz 3 SGB IX hat das Integrationsamt darüber hinaus von Amts wegen zu prüfen, ob eine Weiterbeschäftigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers mit dessen Einverständnis auf einem freien Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb des Arbeitgebers möglich und für den Arbeitgeber zumutbar ist.

In diesem Zusammenhang ist zu ermitteln, ob es überhaupt weitere Betriebe desselben Arbeitgebers gibt. Frei ist ein Arbeitsplatz dann, wenn er zum Zeitpunkt der Kündigungsentscheidung oder während der Kündigungsfrist frei wird. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, einen freien Arbeitsplatz bspw. durch Kündigung eines anderen Arbeitnehmers zu schaffen, um die Kündigung zu vermeiden (BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 664/13; BAG, Urt. v. 16.5.2019 – 6 AZR 329/18 – br 2019, 198). Auch ein mit Leiharbeitnehmern besetzter Arbeitsplatz ist frei (BAG, Urt. v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10). Die Weiterbeschäftigung muss dem schwerbehinderten Menschen möglich und dem Arbeitgeber zumutbar sein. Dies setzt unter anderem voraus, dass der Arbeitnehmer, ggf. nach inneroder außerbetrieblichen zumutbaren Schulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowohl gesundheitlich als auch fachlich für die Tätigkeiten auf dem Arbeitsplatz geeignet ist. Ggf. kommt eine behindertengerechte Arbeitsplatzgestaltung in Betracht. Um dies zu prüfen, ist in der Regel der technische Berater des Integrationsamtes einzuschalten.

Liegen die Voraussetzungen des § 172 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht vor, prüft das Integrationsamt im Rahmen des freien Ermessens unter Abwägung der gegenseitigen Interessen, ob die Zustimmung erteilt wird.

II.  Kündigung wegen einer Insolvenz nach § 172 Abs. 3 SGB IX

Auch dann, wenn ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, ist das Ermessen des Integrationsamts bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen stark eingeschränkt. Das Integrationsamt soll unter den in § 172 Abs. 3 SGB IX genannten Voraussetzungen die Zustimmung zur Kündigung erteilen. Das Ermessen ist nach der Vorschrift nur dann eingeschränkt, wenn der schwerbehinderte Mensch in einem Interessenausgleich namentlich als einer der zu entlassenden Arbeitnehmer bezeichnet wird und außerdem die Schwerbehindertenvertretung beim Zustandekommen des Interessenausgleichs mitgewirkt hat sowie der Anteil der nach dem Interessenausgleich zu entlassenden schwerbehinderten Menschen an der Zahl der beschäftigten schwerbehinderten Menschen nicht größer ist als der Anteil der zu entlassenden übrigen Arbeitnehmer an der Zahl der beschäftigten übrigen Arbeitnehmer. Schließlich muss die Gesamtzahl der schwerbehinderten Menschen, die nach dem Interessenausgleich beim Arbeitgeber verbleiben, zur Erfüllung der Beschäftigungspflicht ausreichen. Nur bei Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen soll das Integrationsamt die Zustimmung zur betriebsbedingten Kündigung erteilen.

Ist keine Schwerbehindertenvertretung gewählt, kommt nach überwiegender Auffassung eine Zustimmung zur Kündigung nach dieser eingeschränkten Ermessensnorm auch bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen nicht in Betracht (Müller-Wenner/Schorn, SGB IX, § 89 Rn. 75, Griebeling, in: Hauck/ Noftz, SGB IX, § 89 Rn. 20; Neumann, in: Neumann/Pahlen/ Greiner/Winkler/Jabben, SGB IX, § 172 Rn. 34; Jäger-Kuhlmann, in: Ernst/Baur/Jäger-Kuhlmann, § 172 Rn. 3), denn Voraussetzung des eingeschränkten Ermessens ist es nach dem Willen des Gesetzgebers, dass die Schwerbehinderten- vertretung die beabsichtigte Kündigung überprüft hat.

Liegen die Voraussetzungen der Sollvorschrift des § 172 Abs. 3 SGB IX vor, wird das Integrationsamt in der Regel die Zustimmung zur Kündigung erteilen. Andernfalls prüft es im Rahmen des freien Ermessens nach § 168 SGB IX unter Abwägung der gegenseitigen Interessen, ob die Zustimmung erteilt wird.

 

D.   Wesentliche Betriebseinschränkung nach § 172 Abs. 2 Satz 2 SGB IX

Anders als bei der Betriebsstilllegung ist bei der wesentlichen Betriebseinschränkung das Ermessen des Integrationsamtes zwar nicht auf Null reduziert, aber wie bei § 172 Abs. 3 SGB IX erheblich eingeschränkt. Das Integrationsamt soll die Zustimmung zur Kündigung erteilen, wenn der Betrieb wesentlich eingeschränkt wird, soweit zwischen dem Tag der Kündigung und dem Tag, bis zu dem Gehalt oder Lohn gezahlt wird, mindestens drei Monate liegen, und soweit die Gesamtzahl der weiterhin beschäftigten schwerbehinderten Menschen zur Erfüllung der Beschäftigungspflicht nach § 154 SGB IX ausreicht. Die eingeschränkte Ermessensnorm kommt nicht zur Anwendung, wenn eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz desselben Betriebes oder auf einem freien Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb desselben Arbeitgebers mit Einverständnis des schwerbehinderten Menschen möglich und für den Arbeitgeber zumutbar ist.

Da es sich bei dieser Bestimmung um eine Sollvorschrift handelt, kann das Integrationsamt seine Zustimmung im Einzelfall aus besonderen Gründen verweigern, auch wenn die gesetzlichen Voraussetzungen der Ermessenseinschränkung vorliegen. In der Regel wird es jedoch bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen die Zustimmung zur Kündigung erteilen.

1.  Eine wesentliche Betriebseinschränkung liegt in entsprechender Anwendung des § 17 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 KSchG vor, wenn

–   in einem Betrieb mit 20 bis 60 Beschäftigten mehr als 5 Arbeitnehmer,

–   von mindestens 60 oder weniger als 500 Beschäftigten 10 % oder mehr als 25,

–   von wenigstens 500 mindestens 30 Arbeitnehmer

entlassen werden sollen.

Als maßgeblicher Zeitraum sind zwölf Monate zu betrachten.

2.  Wie bei der Betriebsstilllegung setzt die eingeschränkte Ermessensnorm voraus, dass zwischen dem Tag der Kündigung und dem Tag, bis zu dem Lohn oder Gehalt gezahlt wird, mindestens drei Monate liegen.

3.  Voraussetzung des eingeschränkten Ermessens ist außerdem, dass der Arbeitgeber weiterhin seine ihm nach § 154 SGB IX obliegende Pflichtquote erfüllt. Dabei ist für die Berechnung der Pflichtzahl die Belegschaftsstärke nach der Betriebseinschränkung maßgeblich. Die Beschäftigungsquote orientiert sich nach § 154 SGB IX nicht am Betriebsbegriff, sondern errechnet sich betriebsübergreifend für sämtliche Betriebe desselben Arbeitgebers. Dementsprechend kommt es im Rahmen des § 172 Abs. 1 Satz 2 SGB IX darauf an, ob der Arbeitgeber auch nach Entlassung der Mitarbeiter mindestens 5 % schwerbehinderte Arbeitnehmer beschäftigt.

Reicht die Gesamtzahl der verbleibenden schwerbehinderten Menschen nach der wesentlichen Betriebseinschränkung zur Erfüllung der Beschäftigungsquote nicht mehr aus, ist § 172 Abs. 1 Satz 2 SGB IX nicht anwendbar.

War der Arbeitgeber auch vor der wesentlichen Betriebsein- schränkung gar nicht beschäftigungspflichtig, ist § 172 Abs. 1 Satz 2 SGB IX nicht anwendbar. Auch die Fallkonstellation, dass der Arbeitgeber nach der wesentlichen Betriebseinschränkung nicht mehr beschäftigungspflichtig ist, ist von § 172 Abs. 2 Satz 2 SGB IX nicht erfasst.

Die Vorschrift ist auf diese Fallkonstellationen auch nicht entsprechend anwendbar. Dies macht das Anknüpfen an die gesetzliche Beschäftigungspflicht deutlich. Die in § 154 SGB IX geregelte Verpflichtung legt den Arbeitgebern auf, an der Gemeinschaftsaufgabe mitzuwirken, schwerbehinderte Menschen ins Arbeitsleben einzugliedern und so ihre Chancen auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu erhöhen. Diese gesetzgeberische Intention spiegelt sich in § 172 Abs. 1 Satz 2 SGB IX wider.

Wird die Beschäftigungspflicht nach der wesentlichen Betriebseinschränkung weiterhin erfüllt, kann der Arbeitgeber bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen einfacher kündigen. Das ist vor dem Hintergrund gerechtfertigt, dass der Arbeitgeber in diesen Fällen trotz der Personaleinschränkung der oben beschriebenen Gemeinschaftsaufgabe weiter nachkommt. Der Gesetzgeber honoriert insofern also hier die Erfüllung der Beschäftigungsquote. Insofern ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die in § 172 Abs. 1 Satz 2 SGB IX enthaltene Soll-Vorschrift zum Schutz der schwerbehinderten Menschen im Arbeitsleben bewusst an die Erfüllung der Beschäftigungspflicht nach § 154 SGB IX geknüpft hat und § 172 Abs. 1 Satz 2 SGB IX damit bewusst eine Ausnahmeregelung hinsichtlich der Ermessenseinschränkung der Integrationsämter darstellen soll.

4.  Bei einer wesentlichen Betriebseinschränkung darf das Integrationsamt seine Zustimmung wie bei einer Betriebsstilllegung dann nicht erteilen, wenn eine Weiterbeschäftigung des schwerbehinderten Menschen möglich und zumutbar ist. Die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit kann entweder auf einem anderen Arbeitsplatz desselben Betriebes oder auf einem freien Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb desselben Arbeitgebers denkbar sein. Sie setzt das Einverständnis des schwerbehinderten Menschen voraus und muss für den Arbeitgeber zumutbar sein.

Bezüglich der Prüfkriterien des Integrationsamts kann insoweit auf die oben unter C I 3 bei der Betriebsstillegung dargestellten Erläuterungen verwiesen werden.

 

E.  Zusammenfassung

Die Ausführungen zeigen, dass die Integrationsämter auch bei fehlendem Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Schwerbehinderteneigenschaft nicht ohne weitere Prüfung eine Zustimmung erteilen. Soweit das OVG NRW (a.a.O.) ausführt, der Sonderkündigungsschutz trete bei einer Betriebsstilllegung erkennbar zurück, ist anzumerken, dass in der Tat der Prüfungsumfang in diesen Fällen gegenüber den Fällen, in denen der Kündigungsgrund im Zusammenhang mit der Schwerbehinderteneigenschaft steht – wie bspw. bei einer personenbedingten Kündigung – geringer ausfällt. Denn in letzteren Fällen entscheidet das Integrationsamt nach freiem Ermessen, indem es die Interessen des Arbeitge- bers gegen die Interessen des schwerbehinderten Arbeitnehmers abwägt.

Nichtsdestotrotz sind die im Gesetz beschriebenen, vom Integrationsamt zu prüfenden Tatbestandsmerkmale in allen Fällen des eingeschränkten Ermessens von Amts wegen zu prüfen. Je nach Fallkonstellation und bestreitendem Vortrag des schwerbehinderten Menschen ist der Prüfungsaufwand des entscheidenden Integrationsamts nicht von der Hand zu weisen und stellt es trotz fehlenden Ermessens auf der Tatbestandsseite vor Herausforderungen. Die Erfahrung zeigt, dass gewiefte Anwälte versuchen, auch in klaren Fällen von Betriebsstillegungen die Entscheidungen der Integrationsämter hinauszuzögern, indem sie bspw. die Betriebsstilllegungsabsicht bestreiten und mögliche Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten aus dem Hut zaubern. Wegen des den Integrationsämtern zustehenden Amtsermittlungsgrundsatzes können diese diesen Vortrag nicht unter den Tisch fallen lassen, sondern sind gehalten ihm nachzugehen.

Um dem Arbeitgeber dennoch in einer vertretbaren Zeit die Möglichkeit zu geben, bei diesen nicht im Zusammenhang mit der Schwerbehinderteneigenschaft stehenden Kündigungsgründen die Kündigung auszusprechen, hat der Gesetzgeber mit der Schaffung des § 171 Abs. 5 SGB IX dafür Sorge getragen, dass die Verfahren beschleunigt werden. Danach gilt die Zustimmung in den o.g. Fällen der Betriebsstillegung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und in den Insolvenzfällen des § 172 Abs. 3 SGB IX als erteilt, wenn das Integrationsamt innerhalb eines Monats keine Entscheidung getroffen hat.

Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die gesetzliche Prüfvorgabe die Integrationsämter auch bei Betriebsstillegungen, wesentlichen Betriebseinschränkungen und Insolvenzen, trotz des eingeschränkten Ermessens fordert und bei Weitem keine reine Formsache ist.

Es ist davon auszugehen, dass sich die Integrationsämter diesen Herausforderungen in den kommenden Monaten als Folge der Covid-19-Pandemie vermehrt werden stellen müssen.

Quelle:
Behinderung und Recht (br) Heft 5/2021, S. 125 ff.