von Prof. Dr. Dirk Heinz, Ravensburg-Weingarten, University of Applied Sciences, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege
Dabei wird auch die von sozialgerichtlicher Seite vorgenommene Ausgrenzung bestimmter Geschehensabläufe dargestellt und unter Kausalitätsgesichtspunkten einer bislang vermissten Einordnung zugeführt. Dabei wird ebenfalls die durch das erzwungene Mitansehen eines Suizids vermittelte psychische Gewalt ausgegrenzt. Schließlich wird die mit der Neufassung des gesamten Sozialen Entschädigungsrechts zu erwartende „neue“ rechtliche Ausgangslage einer Betrachtung unter eben diesem Gesichtspunkt zugeführt.
I. Zum Rechtsgrund der Entschädigung für Opfer von Gewalttaten
Das Opferentschädigungsgesetz befindet sich rechtssystematisch im Sozialen Entschädigungsrecht. Dieses stellt neben der Sozialversicherung, der Sozialhilfe und der Förderung die vierte Säule des deutschen Systems der Sozialen Sicherung dar. Es stellt sich daher die Frage, weshalb der Gesetzgeber sich Anfang der 1970er Jahre dafür entschied, dass das bis dahin bestehende Sozialsystem nicht ausreichend war, um Opfern von Gewaltkriminalität gerecht zu werden. Die Frage nach der „causa“ der Sozialen Entschädigung für den Personenkreis der Gewaltopfer ist nicht nur von theoretischem Wert. Die Theorien bzw. Erklärungssätze zum Rechtsgrund der Sozialen Entschädigung nach dem OEG werden deshalb nachfolgend dargestellt. Anschließend wird als Ergebnis der Auswertung verschiedener Ansätze der derzeit wohl gültige Meinungsstand dargelegt.
Der Rechtsgrund der Entschädigung für die Opfer von Gewalttaten ist heftig umstritten1. Obwohl die Berechtigung der Entschädigung zunächst angezweifelt worden war,2 scheint sich die heutige Kritik auf die Handhabung des Gesetzes zu beschränken3. Es finden sich vielfältige Begründungsansätze für die Existenz dieser Entschädigungsregelung, die auch kumulativ verwendet werden4. Die Erklärungssätze lassen sich untergliedern.
Da ist zunächst die Gruppe der „funktionalistischen Ansätze“. Hierzu zählen die „Vertragsbruchtheorie“5 und die „Theorie der Befriedigungsvereitelung durch den Staat“6.
„Vertragsbruch“ im Sinne der ersten Theorie entsteht im Falle des Geschehens einer Straftat dadurch, dass ein „Garantievertrag“7 zwischen Bürger und Staatsmonopol innehabender Staatsverwaltung dem erstgenannten verbürgt, ihm umfassenden Schutz vor Übergriffen anderer zu bieten. Dies soll der Grund der Entschädigung sein8. Die „Entwaffnung“ des Einzelnen zugunsten des Gewaltmonopols des Staates soll der Hintergrund des Vertrages sein9.
Die Theorie der „Befriedigungsvereitelung durch den Staat“ beinhaltet die Annahme einer Privilegierung staatlichen Strafanspruchs vor dem privatrechtlichen Schadensersatzanspruch, wobei die Privilegierung sowohl bei Freiheitsentzug als auch bei Geldstrafe zur Befriedigungsvereitlung beim Opfer führe10.
Nach der „Aufopferungstheorie“11 handelt es sich um einen gegen die Bundesrepublik gerichteten öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruch eigener Art. Er dient dem Ausgleich für das besondere Opfer, das der Geschädigte durch die Beeinträchtigung seiner Gesundheit oder die Hingabe seines Lebens der Allgemeinheit erbracht hat.
Ebert12 befürwortet diesen Ansatz wegen der Mitwirkung des Opfers bei der Aufklärung der Tat13. Das Sonderopfer besteht in dem Schaden, den der Betroffene, der das Gewaltmonopol des Staates gelten lasse, „im Krieg nach innen“ erleide14. Nach Ansicht Schoreits15 ließe sich der Rechtsgrund der Gewaltopferentschädigung damit begründen, dass jeder, der Opfer eines Angriffs werde, zugleich – auch bei sinnlosem Widerstand – eine Straftat abwehre, damit die Rechtsordnung verteidige und eine „Belohnung“ verdiene (hier „Belohnungstheorie“ genannt)16. Stolleis17 sieht allein „Gerechtigkeitsempfindungen“ als Rechtsgrund der Entschädi- gung an. Diesem „Gerechtigkeitsempfinden“ verleiht Schulin Ausdruck, wenn er im Rahmen der „sozialethischen Rechtfertigung“ für Opfer von Gewalttaten dieses herausstreicht18. Die genauen sozialethischen Gründe liegen dieser Theorie nach in der staatlichen „Ausfallbürgschaft“ bei Fehlen anderweitiger Ausgleichsformen19.
Das Bundessozialgericht entnimmt den Rechtsgrund des Entschädigungsanspruches für diesen Personenkreis dem einleitenden Gesetzesentwurf der Bundesregierung20. Es führt aus, die Entschädigung sei deshalb auf gesetzliche Grundlage gestellt worden, „weil vielfach die bereits vorgeschriebenen Ersatz- und Ausgleichsleistungen, insbesondere der Sozialen Sicherheit und privatrechtlicher Schadensersatz durch den Täter, nicht zu verwirklichen sind und nicht ausreichen, sodass die Betroffenen in Not geraten“21.
Das Bundessozialgericht steht mit dieser Auffassung in der Nähe von Kunz22, der ebenso weitergehende Erklärungsversuche ablehnt und die Intention des Gesetzgebers herausstellt, schwer geschädigte Opfer von Gewalt vor dem sozialen Abstieg zu bewahren. Dabei hat der Gesetzgeber aus ihrer Sicht „die konstitutiven Elemente dieser Verantwortung (nicht) dargelegt“. Nach dieser Auffassung sind „allein die rechtspolitischen, das OEG als regulative Maßnahme“ ansehenden Betrachtungen zutreffend23. Damit sind, wie auch Wulfhorst24 meint, einzelne Begründungsfaktoren auszuschließen. Es besteht vielmehr ein wohl nicht näher konkretisierbares „Bündel von Motiven“. Er spricht die „sozialethische Entscheidung“ an und rückt damit auch in die Nähe von Kunz und Schulin. Damit wird ferner die Begründung weitergehender Entschädigungsverpflichtungen der Gemeinschaft abgelehnt25.
So erscheint die Auffassung als derzeit herrschend, wonach der Entschädigungsanspruch des OEG wie die Tatbestände der Sozialen Entschädigung insgesamt in ihrer gesetzlichen Ausgestaltung durch § 5 SGB I als „Willkürakte des Gesetzgebers“ angelegt seien26.
Zusammenfassend lassen sich die Meinungen von Schulin, Wulfhorst, Kunz und nicht zuletzt des BSG damit wohl auf den „gemeinsamen Nenner“ bringen, dass der Anspruch auf Soziale Entschädigung für Gewaltopfer besteht, weil der Gesetzgeber dies, vor allem zur finanziellen Absicherung der Betroffenen, beschlossen hatte. Ergänzend sei jedoch an dieser Stelle eine Entwicklung der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit, insbesondere des BSG angesprochen, die zwar nicht ausdrücklich auf den Rechtsgrund der Entschädigung nach dem OEG hinausläuft, jedoch m. E. Rückschlüsse zulässt.
In zwei Entscheidungen zum „gewaltlosen“ sexuellen Missbrauch von Kindern aus dem Jahre 199527 greift das BSG im Rahmen der Auslegung des Begriffes des „tätlichen Angriffs“ i. S. v. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auf das Argument der Folgenschwere von Gewaltdelikten zurück. Es begründet letztlich die Einbeziehung „gewaltlosen“ Missbrauchs in den Tatbestand damit, dass „der sexuelle Missbrauch von Kindern tatsächlich die Gefahr krankhafter Entwicklung hervorrufen kann“.
In dem anderen Urteil vom selben Tag28 wird ausgeführt: „Die durch die neuen Forschungsergebnisse bestätigte Gefahr schwerer psychischer Schädigungen auch bei gewaltfreiem Missbrauch von Kindern verlangt(e) einen staatlichen Opferschutz auch im Hinblick auf diese Folgen, die gerade die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft …“ träfen.
An anderer Stelle wird noch zur Begründung der pauschalen Einbeziehung der Straftaten nach § 176 StGB ausgeführt, „mit der Differenzierung zwischen gewaltsamer und gewaltloser Angriffshandlung“ werde „die dringende Gefahr einer sekundären Victimisierung verbunden …“ – Dies wird damit in Zusammenhang gebracht, dass die Versorgungsverwaltungen andernfalls gründliche Recherchen anstellen müssten, um herauszufinden, ob denn eine Missbrauchshandlung „friedlich“ oder gewaltsam durchgeführt wurde. Diese Entscheidungen lassen Rückschlüsse auf die Sichtweise des BSG betreffend den Rechtsgrund der Entschädigung zu. Es geht wohl um ein an den Tatfolgen orientiertes Verständnis des Anspruchs auf Entschädigung i. S. d. OEG.
II. Die Zielbestimmung der „umfassenden wirtschaftlichen Sicherung“
Für die Ermittlung der Zielbestimmung des OEG sind vor allem zwei Gesetzesmaterialien29 einschlägig. Den übrigen „Protokollen“ der Entstehungsgeschichte lässt sich im Wesentlichen entnehmen, dass man sich über die Notwendigkeit der Entschädigung einig war und die Rechtsfolgenwahl noch Probleme bereitete.
Der erste Gesetzesentwurf der Bundesregierung30 enthält tragende Ausführungen hinsichtlich der Zielsetzung. Demnach sei es Aufgabe der Gesellschaft, für die Soziale Sicherung derer zu sorgen, die durch Gewalttaten schwere Nachteile für Gesundheit und Erwerbsfähigkeit erlitten. Ebenso müsse demnach Hinterbliebenen geholfen werden, wenn der Ernährer durch eine Gewalttat sein Leben verloren habe. Da der gesetzliche Schadensersatzanspruch gegenüber dem Täter regelmäßig nicht zu realisieren sei, so die Begründung im Jahr 1974, wollte der Gesetzgeber „diese Lücke schließen“31.
Ebenso wird dieser Aspekt der Zielsetzung in der Stellungnahme des Bundesrates zu dem Gesetzesentwurf32 hervorgehoben. Demnach sollte das OEG „soziale Härten vermeiden und ein soziales Absinken der Opfer verhindern“. Weiter wird in der Gesetzesbegründung33 ausgeführt, „Opfer von Gewaltkriminalität könnten oft von einem Tag auf den anderen ohne jedes Verschulden erwerbsunfähig, hilflos oder pflegebedürftig werden“. Solchen schwer geschädigten Menschen Hilfe zu leisten, sei Ziel des Gesetzes. Unter Bezugnahme auf „Dauerfolgen von Körperverletzungen“ heißt es ferner, könne „die allgemeine gesellschaftliche Stellung der Betroffenen schwer“ beeinträchtigt werden. Dabei wird ausdrücklich der Verweis auf die Leistungen der Sozialhilfe als unzureichend angesehen34.
Es wird hervorgehoben, das Leistungssystem des BVG werde diesen Anforderungen am besten gerecht35. Eine „vollständige wirtschaftliche Sicherung“ solle durch das OEG hergestellt werden36, wenn jemand durch eine Gewalttat „Gesundheit und Arbeitskraft“ verliere37.
Unter dem Gesichtspunkt der „Auswirkungen auf die Haushalte von Bund und Ländern“38 wird in der Begründung des Entwurfs der Bundesregierung besonderes Gewicht auf Fälle gelegt, „in denen Dauerschäden verursacht“ werden, die finanziell auszugleichen seien. Es soll der entgangene Schadenersatz angesichts von Zahlungsunfähigkeit des Täters kompensiert werden39.
In der hier dargelegten Zielbestimmung der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten ist die Betonung des Zieles, bei schweren Dauerschäden eine finanzielle Sicherung herstellen zu wollen, festzustellen. Darüber hinaus soll Hinterbliebenen gewaltsam Getöteter über die Sicherung durch Sozialhilfe hinaus ein Auskommen gesichert werden, das wohl in etwa dem entspricht, welches vor der Schädigung vorhanden war40. Heilbehandlung und Rehabilitation für die Opfer von Gewaltkriminalität wird nur ganz am Rande und ohne weiteren Bezug auf die Aufgabe der finanziellen Sicherung genannt41.
III. Die opferentschädigungsrechtliche Behandlung sogenannter „Schockschäden“
1. Die Ausgangsentscheidung des BSG aus dem Jahre 1979
Mit Urteil aus dem Jahre 197942 entschied das BSG, dass eine Mutter, die aufgrund der Nachricht von einem vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen ihr Kind (hier: von seiner Ermordung) einen Schockschaden in Gestalt einer dauernden psychischen Gesundheitsstörung erleidet, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG hat. Dieses Ergebnis wird damit begründet, dass, wenn eine Mutter Augenzeugin der Ermordung ihrer Tochter würde und sie hierüber psychisch erschüttert wäre, die Gleichzeitigkeit von Straftat und Zufügen des seelischen Leides gegeben wäre. Ebenso ist in diesen Fällen die Unmittelbarkeit der Schädigung nicht deshalb zu verneinen, weil die Kausalkette über die Tötung des Kindes etwa als insofern notwendiges Glied führte. Die Mutter werde in diesem vom BSG konstruierten Falle hier als „Zuschauerin“ von dem Tathergang gleichsam überfallen. Sie ist aus Sicht des Senats „unmittelbar“, also direkt geschädigt worden.
Nicht anders ist nach Auffassung des damaligen für die Entschädigung zuständigen Senats die Fallgestaltung rechtlich einzuordnen, wenn, wie in dem hier entschiedenen Fall, die Kunde von dem Gewaltverbrechen an dem Kind bei der Mutter eine posttraumatische Belastungsstörung hervorruft (seelischer Schock). Dafür sei entscheidend, dass der an der Schockwirkung Erkrankte selbst durch die Gewalttat betroffen ist (benannt: „unmittelbarer Schaden“) und nicht etwa nur deren Rückwirkung zu spüren bekommt. Auf diese Sachlage trifft der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ebenso zu, wenn ein tätlicher Angriff gegen „eine andere Person“ stattfinde.
Zieht man, so der Senat, zu dieser Entscheidung die Parallele mit der gedachten Situation, dass eine Mutter Augenzeugin der Ermordung ihrer Tochter ist und hierüber psychisch krank wird, so kann demzufolge die rechtliche Antwort kaum zweifelhaft sein. Dann wäre einmal die Gleichzeitigkeit von Straftat und Zufügen des seelischen Leidens gegeben. Zum anderen wäre die Unmittelbarkeit der Schädigung nicht des halb zu leugnen, weil die Kausalkette über die Tötung des Kindes als notwendiges Glied führte. Ein solcher Tatsachenverlauf wird häufig als „Fernwirkung“ bezeichnet. Durch diesen Ausdruck sollte man sich jedoch nicht verleiten lassen, einen entsprechenden Sachverhalt als einen mittelbaren Eingriff in die Gesundheit zu bewerten, so das BSG. Die Mutter würde als Zuschauerin von dem Tathergang überfallen. Die Tätlichkeit fände so, wie sie sie mit ansehen musste, direkten Zugang zu ihrem Gefühl und ihrem Bewusstsein. Sie wäre „unmittelbar“ beeinträchtigt. Dass dies der Reflex auf einen „Fremdschaden“ wäre, hätte keine Bedeutung. Anders ist nach Ansicht des BSG jedoch auch die Reaktion nicht zu beurteilen, welche die Kunde von einem Gewaltverbrechen an einem nächsten Familienmitglied hervorruft. Dafür sei entscheidend, dass der an der Schockwirkung erkrankte Mensch selbst durch die Gewalttat betroffen sei und nicht etwa nur deren Rückwirkung zu spüren bekomme. Auf diese Sachlage trifft dann der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG zu, wonach „eine gesundheitliche Schädigung infolge eines … tätlichen Angriffs gegen … eine andere Person“ verursacht sein muss.
Die Nachrichtenübermittlung von dem besonders schrecklichen Geschehen bildet demnach eine natürliche Einheit mit dem Gewaltvorgang. Das gilt demzufolge jedenfalls für den Schockschaden.
Die versorgungsrechtliche Kausalitätsnorm gilt nach der erklärten Absicht des Gesetzgebers (BT-Drucks 7/2506, S. 11, 15) auch für die Tatbestände des OEG. Dem widerstreitet indessen die in diesem Urteil gefundene Lösung nicht. Hier war über die Unmittelbarkeit im Verhältnis von Schädiger und Geschädigtem zu entscheiden. Dies ist nach Ansicht des Senats keine Frage der Kausalität, sondern eine solche der Abgrenzung des berechtigten Personenkreises. Nach der hier vertretenen Rechtsauffassung ist das schadensstiftende Geschehen gegenüber der Klägerin für sich zu betrachten, und zwar unabhängig von dem Ende der Gewalttat an ihrem Kinde. Im Verhältnis zu ihr – der ebenfalls unmittelbar Geschädigten – ist demnach ein einheitlicher, in sich geschlossener Lebensvorgang zu beurteilen, der nicht aufgetrennt werden darf. Die versorgungsrechtlich beachtliche Ursachenkette hat deshalb erst dort aufzuhören, wo sich der Angriff gegen die Klägerin, gegen ihre Psyche auswirkte.
Soweit die Rechtsauffassung des damaligen BSG zu der hier anstehenden Frage der Berechtigung.
Festzuhalten bleibt demnach an dieser Stelle, dass es sich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung hier um einen direkten, parallel zur Primärschädigung ablaufenden Schädigungsvorgang handelt. Dabei wird, wie sonst auch im Sozialen Entschädigungsrecht, die Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung als geltend zugrunde gelegt.
2. Die Frage des Kausalzusammenhanges in den Fällen der Schockschädigung
Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz wird nur gewährt, wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem schädigenden Vorgang und der anzuerkennenden Gesundheitsstörung gegeben ist. Dabei wird eine mehrgliedrige Kausalkette unterschieden. Das erste Glied der Kette ist der schädigende Vorgang, welcher in dem Eindruck bzw. den Eindrücken der insofern geschädigten Person besteht. Dies kann ein Miterleben, ein Auffinden sein. Aber auch das Erfahren der Schädigung des Angehörigen im Wege der Nachrichtenübermittlung kann dazu gehören. Das zweite Glied bildet die durch den schädigenden Vorgang hervorgerufene gesundheitliche Schädigung. Das dritte Glied stellt die Folge der gesundheitlichen Schädigung, die Gesundheitsstörung selbst dar, die ggf. dann zur Anerkennung gelangt. Es muss dabei ein Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten sowie zwischen dem zweiten und dritten Glied, mithin eine geschlossene Kausalkette vorliegt43. Im hier zugrundeliegenden Versorgungsrecht hat sich, ausgehend von der zivilrechtlichen Adäquanztheorie, die Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung durchgesetzt. Diese Theorie wurde vom Reichsversorgungsgericht entwickelt, wobei hier von den Bedingungen, die bei der Entstehung der Schädigung mitgewirkt haben, nicht jeder Umstand, der irgendwie zum Erfolg beigetragen hat, als rechtlich relevant anzusehen ist. Vielmehr muss zwischen den Bedingungen des Erfolges, die im Rechtssinne als Ursache zu gelten haben und solchen, die es nicht sind, unterschieden werden. Hierbei muss diese Unterscheidung im Einzelfall aus der Auffassung des täglichen Lebens getroffen werden44. Hierbei sind unter Ursachen nicht alle Bedingungen des Erfolges zu verstehen, unabhängig davon, mit welcher Schwere sie zum Erfolg beigetragen haben. Als Ursache sind vielmehr unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen zu verstehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg diesen wesentlich herbeigeführt haben. Dies bedeutet, dass zunächst alle Ursachen festgestellt werden müssen, die für ein Resultat erkennbar wirksam geworden sind. Ursachen, die sicher feststehen, sind dann unter dem Gesichtspunkt ihrer naturwissenschaftlichen Wirksamkeit zu überprüfen. Sodann ist in diesem Zusammenhang abzuwägen, welche (eine oder mehrere) von ihnen dem eingetretenen Ereignis besonders nahestehen. Diese werden dann als wesentliche Bedingungen angesehen. Gehört ein hier versorgungsrechtlich geschützter Ablauf zu diesen Ursachen, so hat der Geschädigte eine gesundheitliche Schädigung in diesem Sinne erlitten45. Beiden rechtserheblichen Ursachen im Sinne des sozialen Entschädigungsrechts im Sinne der hier geltenden Kausalnorm geht es stets um tatsächliche Vorgänge, sodass hypothetische Ursachen ausscheiden. Hier gelten damit als beachtliche Ursachen nach herrschender Lehre und Rechtsprechung alle Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg, zu dessen Eintritt so wesentlich mitgewirkt haben, dass der Schaden nach menschlicher Voraussicht in dieser Schwere nicht eingetreten wäre46.
Unter diesen Vorgaben erscheint es als eindeutig, dass in den Fällen der sogenannten Schockschäden der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen schädigendem Vorgang und Schädigung gegeben ist. „Die Mutter würde als Zuschauerin von dem Tathergang überfallen. Die Tätlichkeit fände so, wie sie sie mit ansehen musste, direkten Zugang zu ihrem Gefühl und ihrem Bewusstsein. Sie wäre „unmittelbar beeinträchtigt“ wie es das BSG in der oben dargestellten Entscheidung aus dem Jahr 1979 ausführte. Auch das Erfahren über die Nachrichtenübermittlung wird hier, wie in der erwähnten Entscheidung, gleichzusetzen sein.
Es ist damit kein Problem hinsichtlich der Kausalität festzustellen, wenn hier dennoch in der aktuellen Rechtsprechung, die es aufzuzeigen gilt, differenzierende Ausgrenzungen aus dem zu entschädigenden Personenkreis vorgenommen werden.
3. Die Behandlung sogenannter „Schockschäden“ in der aktuellen Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit
a) BSG, Beschluss vom 14.10.2015 – B 9 V 43/15 B
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 28.5.2015 wird als unzulässig verworfen.
Der Vater des 1993 geborenen Klägers wurde im Juni 2007 Opfer eines tätlichen Angriffs. Der Schädiger versetzte ihm u. a. zwei heftige Kopfstöße ins Gesicht. Infolge der dabei erlittenen Verletzung fiel das Opfer ins Koma und verstarb fünf Tage später im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen. Der Schädiger wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt.
Wie der Gutachter Dr. S. in Übereinstimmung mit weiteren Ärzten ausgeführt habe, sei die Funktionsstörung nicht auf den Schock anlässlich der Nachricht von der Tat, sondern auf den mehrere Tage später erfolgten, belastenden Tod des Vaters zurückzuführen.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erhalten Sekundäropfer nur dann Leistungen nach dem OEG, wenn sie als Augenzeugen des das Primäropfer schädigenden Vorgangs oder durch eine sonstige Kenntnisnahme davon geschädigt worden sind. Hingegen reicht es nicht aus, wenn es bei ihnen zu einer initialen Schädigung erst aufgrund von Ereignissen gekommen ist, die das Primäropfer nach Abschluss des betreffenden schädigenden Vorgangs erfasst haben (vgl. BSG, Urteil vom 12.6.2003 – B 9 VG 8/01 R – SozR 4-3800 § 1 Nr. 2).
b) Bayerisches LSG, Urteil vom 28.3.2017 – L 20 VG 4/13
Leitsätze
1. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zu sogenannten „Schockschäden“ bei einem Sekundäropfer erfordert eine „besonders schreckliche Gewalttat“. Eine solche Gewalttat ist nur bei Totschlag und Mord sowie vergleichbaren Gewalttaten anzunehmen. Eine schwere Körperverletzung nach § 226 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB fällt nicht darunter.
Dies gilt auch, wenn die gegenüber dem Primäropfer (hier: Kleinkind) verübte Gewalttat (hier: Schütteln mit Überstreckung der Halswirbelsäule) schlimme Folgen hat (hier: zeitweise Lebensgefahr des Kindes sowie bleibende Schäden in Form von geistiger Behinderung, schwerer Epilepsie und nahezu vollständigem Sehverlust auf einem Auge).
2. Der erforderliche unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung ist nicht mehr gegeben, wenn dem Sekundäropfer die schockierenden Tatumstände erst viel später bewusst werden (hier: im Verhandlungstermin vor dem Strafgericht als der Sachverständige das Tatgeschehen an einer mitgeführten Puppe demonstrierte).
c) BSG, Beschluss vom 25.9.2017 – B 9 V 30/17 B
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28.3.2017 wird als unzulässig verworfen.
d) LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 4.5.2020 – L 13 VG 12/20
Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist eine körperliche Gewalteinwirkung auf das Opfer erforderlich. Eine bloß „psychisch vermittelte Gewalt“ ist in diesem Sinne nicht ausreichend.
Aus den Gründen:
… Vorsätzliche rechtswidrige Gewalttaten waren im Hinblick auf diesen Streitgegenstand die mehrfachen körperlichen Misshandlungen zum Nachteil der Klägerin durch S H. Sein Suizid ist dagegen kein vorsätzlicher rechtswidriger Angriff i. S. d. OEG. Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R) ist insofern eine körperliche Gewalteinwirkung auf das Opfer erforderlich. Eine bloß „psychisch vermittelte Ge- walt“ ist nicht ausreichend. Die Körperverletzungen einerseits und der Suizid andererseits stellen auch keinen einheitlichen Lebenssachverhalt dergestalt dar, dass allein wegen des zeitlich-räumlichen Zusammenhangs auch der nicht un- mittelbar auf den Körper der Klägerin einwirkende Suizid des S H zu einer Gewalttat wird. Andernfalls würde der für die Konturierung des Schädigungstatbestandes maßgebliche Gewaltbegriff ausgehöhlt. Der Suizid wird schließlich nicht unter Berücksichtigung der Grundsätze zum sogenannten Schockschaden vom Schädigungstatbestand erfasst. Der Gewaltbegriff des OEG knüpft an das Strafrecht an (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R). Es war die Absicht des Gesetzgebers, den „wesentlichen Bereich der so- genannten Gewaltkriminalität“ zu erfassen (BT-Drs. 7/2506, S. 10) und für die „Unvollkommenheit staatlicher Verbrechensbekämpfung“ (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 1/ 13 R) einzutreten. Ein Suizid ist aber schon tatbestandlich keine Straftat, weil die Tötungsdelikte des StGB sich nur auf die Tötung „anderer“ Personen beziehen (vgl. hierzu Eser/ Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, vor §§ 211 ff. Rn. 33). Entsprechend ist in den Fällen des sogenannten Schockschadens der „andere“, der in solchen Konstellationen unmittelbar körperlich geschädigt wird, immer ein Dritter und nicht der Täter selbst. Dies schlägt sich entsprechend in der vom Bundessozialgericht verwendeten Terminologie nieder („Primäropfer“ und „Se- kundäropfer“, vgl. etwa BSG, Urteil vom 7.4.2011 – B 9 VG 2/10 R; „Dritter“ bzw. „Drittgeschädigter“, vgl. etwa BSG, Urteil vom 7.11.1979 – 9 RVg 1/78).
4. Betrachtung der vorgenommenen Ausgrenzung der aktuellen Fallgestaltungen aus dem Bereich der Gewaltopferentschädigung, zugleich Betrachtung der geplanten Neugestaltung des Anspruchs auf Entschädigung innerhalb des SGB XIV „de lege ferenda“
In allen von der Sozialgerichtsbarkeit hier behandelten Fällen steht erkennbar auch die Frage nach dem tatsächlich geschehenen Schockerlebnis im Raume, mithin die Frage, ob es, unabhängig von der hier erörterten Frage der Einbeziehung in den Anwendungsbereich des OEG, überhaupt zu einer Schädigung im Sinne des Gesetzes gekommen ist.
Unterstellt man aber zunächst in den beiden ersteren Varianten eines Schädigungsgeschehens eine vorausgesetzte Schädigung des Sekundäropfers, so bleibt festzustellen, dass aufgrund der vorgefundenen Grundkonstruktion des BSG aus dem Jahre 1979, die wohl auch heute von der Sozialgerichtsbarkeit durchgehalten wird, die geschädigte Person jeweils als „Zuschauer“ von dem Tathergang überfallen wurde. Die Tätlichkeit hätte so, wie sie die Tat miterleben musste, direkten Zugang zu ihrem Gefühl und ihrem Bewusstsein gefunden. Die Person des Sekundäropfers wäre „unmittelbar“ beeinträchtigt.
Die vorgenommene Ausgrenzung erinnert an die neuere Lehre von der objektiven Zurechnung, mithin daran, dass zurechenbar ein durch menschliche Handlung verursachter Erfolg nur dann ist, wenn die Handlung eine rechtlich verbotene Gefährdung des geschützten Handlungsobjekts geschaffen und diese Gefahr sich in dem tatbestandsmäßigen Erfolg verwirklicht hat47.
Bei einer derartigen Konstruktion liegt es nahe, auch hier die Typen der Tatbestandslehre des Strafrechts zugrunde zu legen48 und somit hier auf die Zuordnung von Handlung und Handlungsobjekt unter dem Gesichtspunkt der Erfolgsdelikte abzuheben.
Damit rückt die neuere Lehre von der objektiven Zurechnung in den Fokus.
Die objektive Zurechnung stellt ein Korrektiv dar, das der Kausalität einen gewissen Rahmen verleiht. Die Einschränkung des Anwendungsbereichs ergibt sich aus der Frage, ob sich im Erfolg tatsächlich die vom Täter geschaffene Gefahr realisiert hat. Eigenständiger Prüfungsstandort für die objektive Zurechnung ist der objektive Tatbestand nach Feststellung der Kausalität.
Der „atypische Kausalverlauf “49 beschreibt Fallgestaltungen, in denen der Verletzte lediglich aufgrund seiner abnormen Konstitution zu Schaden kommt, wobei das eigentliche Problem in der Voraussehbarkeit zu liegen scheint50 .
Bei der hierzu zu zählenden Sonderform der „psychisch vermittelten Kausalität“ geht es um Fälle, in denen der Kausalzusammenhang lediglich durch die Psyche vermittelt wird. Unter Heranziehen allgemeiner Erfahrungsgrundsätze kann eine Kausalität grundsätzlich angenommen werden. Nur dann kann ggf. darauf geschlossen werden, dass eine (psychische) Beeinflussung tatsächlich Grundlage der Entscheidung des Handelnden geworden ist51.
Beispielhaft sei der „Gubener Verfolgungsfall“ anzuführen, in dem ein Asylbewerber auf der Flucht vor einer bewaffneten und ihm drohenden Gruppe Skinheads durch eine geschlossene Glastür springt und sich dabei tödliche Schnittwunden zuzieht. Eine Kausalität müsste in diesem Fall angenommen werden52.
Es vermag, so gesehen, nicht zu überzeugen, dass dann in diesen Fallgestaltungen unter eben diesem Gesichtspunkt eine Abgrenzung vorgenommen wird, da in der erstgenannten Fallgestaltung die Funktionsstörung nicht auf den Schock anlässlich der Nachricht von der Tat, sondern auf den mehrere Tage später erfolgten, belastenden Tod des Vaters zu- rückzuführen sei. Auch die wohl übereinstimmend getroffene Bewertung, wonach der erforderliche unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung nicht mehr gegeben sei, wenn dem Sekundäropfer die schockierenden Tatumstände erst viel später bewusst werden (hier: im Verhandlungstermin vor dem Strafgericht als der Sachverständige das Tatgeschehen an einer mitgeführten Puppe demonstrierte), vermag wenig zu überzeugen. Ist doch in beiden Fallgestaltungen ein zeitlicher Versatz festzustellen, unter Umständen auch eine „Komplikation“ bei der Verarbeitung des Erlebten, so bleibt unter Kausalitätsgesichtspunkten festzustellen, dass im Sinne eben der versorgungsrechtlichen, einschlägigen Kausalitätsnorm Verursachung festzustellen ist. Hier gelten damit als beachtliche Ursachen nach herrschender Lehre und Rechtsprechung alle Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg, an dessen Eintritt so wesentlich mitgewirkt haben, dass der Schaden nach menschlicher Voraussicht in dieser Schwere nicht eingetreten wäre53. Dies wiederum scheint hier zu bejahen zu sein, da in beiden Fallgestaltungen der Schilderung nach zutreffend.
Auch das inzwischen in Kraft getretene SGB XIV (Gesetz zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts) sieht in den vorgesehenen Regelungen insofern keine Auflösung der hier angesprochenen Problematik vor. Dort ist folgende Regelung enthalten:
§ 14 Opfer von Gewalttaten
(1) Als Opfer einer Gewalttat erhält bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 5 Absatz 1 Leistungen der Sozialen Entschädigung, wer im Inland oder auf einem deutschen Schiff oder in einem deutschen Luftfahrzeug eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat durch
1. einen vorsätzlichen, rechtswidrigen, unmittelbar gegen ihre oder seine Person gerichteten tätlichen Angriff (körperliche Gewalttat) oder durch dessen rechtmäßige Abwehr oder
2. ein sonstiges vorsätzliches, rechtswidriges, unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung einer Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten (psychische Gewalttat).
(2) Ein Verhalten im Sinne von f. 1 Nummer 2 ist in der Regel schwerwiegend, wenn es den Tatbestand des Menschenhandels (§§ 232 bis 233a des Strafgesetzbuchs), der Nachstellung (§ 238 Absatz 2 und 3 des Strafgesetzbuchs), der Geiselnahme (§ 239b des Strafgesetzbuchs) oder derräuberischen Erpressung (§ 255 des Strafgesetzbuchs) erfüllt oder von mindestens vergleichbarer Schwere ist.
§ 15 Gleichstellungen
(1) Einer Gewalttat stehen gleich:
1. die vorsätzliche Beibringung von Gift,
2. das Fehlgehen der Gewalttat, sodass sie eine andere Person trifft als die Person, gegen die sie gerichtet war,
3. ein Angriff in der irrtümlichen Annahme des Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes,
4. die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen und
5. die erhebliche Vernachlässigung von Kindern.
(2) Den Opfern von Gewalttaten stehen Personen gleich, die in Folge des Miterlebens der Tat, des Auffindens des Opfers oder der Überbringung der Nachricht vom Tode oder der schwerwiegenden Verletzung des Opfers eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, wenn zwischen diesen Personen und dem Opfer im Sinne des § 14 oder des Absatzes 1 eine enge emotionale Beziehung besteht. Eine solche Beziehung besteht in der Regel in Ehen, eingetragenen Lebenspartnerschaften sowie mit Nahestehenden im Sinne des § 3 Absatz 5.
§ 16 Leistungsberechtigung sonstiger Betroffener
Personen, die
1. ein Tatgeschehen im Sinne des § 14 oder des § 15 Absatz 1 unmittelbar miterlebt oder
2. eine durch eine Tat im Sinne des § 14 oder des § 15 Absatz 1 getötete Person aufgefunden haben, ohne eine enge emotionale Beziehung zum Opfer zu haben (sonstige Betroffene),
erhalten Leistungen der Schnellen Hilfen.
Es bleibt nach alledem festzuhalten, dass der in der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit entwickelte sogenannte Schockschaden nunmehr in den Katalog der entschädigungspflichtigen Ereignisse aufgenommen worden ist, vorausgesetzt, es kommt zu einer Schädigung des sogenannten Primäropfers durch eine rechtswidrige Tat im Sinne des Strafrechts. Letzteres ist nicht gegeben im Rahmen des Miterlebens eines Suizids, wie das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 4.5.202054 entschied.
Das Miterleben eines Suizids wird dann auch nicht etwa durch die Neuregelung des § 14 Abs. 1 Nr. 2 SGB XIV erfasst, wobei ein sonstiges vorsätzliches, rechtswidriges, unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung einer Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten (psychische Gewalttat) ausreichend ist, soweit es von mindestens vergleichbarer Schwere ist. Unabhängig von der Frage eines notwendig festzustellenden Schädigungsvorsatzes, der hier als Tatbestandsmerkmal wohl offenblieb, setzt die Regelung des § 14 Abs. 1 Nr. 2 SGB XIV neu voraus, dass es sich um eine rechtswidrige Tat handelt. An der Rechtswidrigkeit fehlt es indes hier, weil Suizid nicht gegen geltendes Recht verstößt und auch angesichts der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung, welches dem nach mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig ist wegen der Verletzung u. a. des existenziell bedeutsamen Rechts auf selbstbestimmtes Sterben als Aspekt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)55.
Dieses Ergebnis stimmt dann auch mit dem eingänglich dargestellten Rechtsgrund der Gewaltopferentschädigung und der Zielbestimmung dessen überein.
Anmerkungen
1 Sieg, Hilfe für die Opfer von Straftaten durch gesetzliche Unfallversicherung, JA 1972, S. 33 ff.; Kötz, Verbrechensopfer als Staatsrentner, ZRP 1972, S. 139, 140.
2 Klie, Opferentschädigungsgesetz und Soziale Arbeit – Einführung, Kommentar, Materialien, Freiburg 1996, S. 42 f.
3 Rüfner, in: Wannagat, SGB I, Rn. 9 zu §§ 5, 24 m. w. N.; Doehring-Striening, Anmerkungen zu BSG, Urteil vom 23.10.1985 – 9 A RVg 4/83 – SGb 1986, S. 428 spricht von einer „Gemengelage übernommener Legitimationsansätze“.
4 Kirchhoff, Opfermindestversorgung, in: Victimologie, Schweizerisches Nationalkomittee für geistige Gesundheit. Schweizerische Arbeitsgruppe für Kriminologie, Haesler (Hrsg.), Grünsch, 1986, S. 227, 230 m. w. N.
5 Nachweise bei Weintraud, Staatliche Entschädigung für Opfer von Gewalttaten in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland. Rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft, Folge 3, Band 9, Baden-Baden, 1980, S. 21, Fn. 16; Otte, Staatliche Entschädigung.
6 Weintraud, Staatliche Entschädigung für Opfer von Gewalttaten in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, S. 23, Fn. 21/22 m. w. N.
7 Weintraud, Staatliche Entschädigung für Opfer von Gewalttaten in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, S. 21.
8 Kritisch hierzu Weintraud, Staatliche Entschädigung für Opfer von Gewalttaten in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, S. 22.
9 Weintraud, Staatliche Entschädigung für Opfer von Gewalttaten in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, S. 21; Kunz, Probleme der Opferentschädigung im deutschen Recht – Einzelfragen im Lichte einer Konzeptanalyse, Baden-Baden, 1995, S. 54 ablehnend; ferner kritisch Otte, Staatliche Entschädigung für Opfer von Gewalttaten in Österreich, Deutschland und der Schweiz, S. 82, der unter Bezugnahme auf Scholz/Pitschas, Sozialstaat und Gleichheit, in: Deutscher Sozialgerichtstag e.V. (Hrsg.), 25 Jahre Sozialrechtsprechung, Verantwortung für den Rechtsstaat, Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des BSG, Köln, 1979, Bd. 2, S. 627, 653, bemängelt, die Grundrechte würden als Leistungsgrundrechte für die Begründung der Gewaltopferentschädigung bisher nicht genutzt.
10 Hierzu Doering-Striening, Die Versagung von Opferentschädigungsleistungen gemäß § 3 Abs. 1 OEG, Diss. 1988, S. 45 und Kunz, Probleme der Opferentschädigung im deutschen Recht, S. 55 f. ablehnend.
11 Schoreit, Entschädigung für Verkehrsopfer als öffentliche Aufgabe, Berlin, 1973, S. 76.
12 Ebert, Hilfe für Verbrechensopfer – Die Bewältigung einer staatlichen Aufgabe mit dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG), München, 1981, S. 22.
13 Ebert, Hilfe für Verbrechensopfer – Die Bewältigung einer staatlichen Aufgabe mit dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG), München, 1981, S. 22.
14 Ebert, a. a. O.
15 Schoreit, Entschädigung für Verkehrsopfer als öffentliche Aufgabe, S. 76.
16 A. A. Stolleis, Entschädigung für Opfer von Gewalttaten – erste Konkretisierungen durch die Rechtsprechung, in: Im Dienst des Sozialrechts, FS für Wannagat zum 65. Geburtstag, S. 579, 586 f., der die fehlende Stichhaltigkeit dieses Ansatzes damit begründet, dass die Opferwerdung keine Leistung des Opfers darstelle, die „belohnt“ werden könnte.
17 Stolleis, in: FS für Wannagat, S. 588.
18 Schulin, Anm. zu BSG, Urteil vom 17.11.1981 – 9 RVg 2/81 – SGb 1983, S. 75, 81, sowie in: Soziale Entschädigung als Teilsystem kollektiven Schadensausgleichs, Habilitation, Freiburg, 1981, S. 222 f.
19 Schulin, SGb 1993, S. 75, 81.
20 BT-Drucks. 7/2506, I. A., S 7 f.; II. A. S. 10.
21 BSG, Urteil vom 7.11.1979 – 9 RVg 2/78 – BSGE 49, 104/105 und BSG, Urteil vom 24.4.1980 – 9 RVg 1/79 – BSGE 50, 95.
22 Kunz, Probleme der Opferentschädigung im deutschen Recht, S. 73 f., 95.
23 Kunz, Probleme der Opferentschädigung im deutschen Recht, S. 95 f.
24 Wulfhorst, Soziale Entschädigung in Politik und Gesellschaft – Rechtssoziologisches zur Versorgung der Kriegs-, Wehr- und Zivildienst-, Impfschadens- und Gewaltopfer, 1. Aufl. 1994, Baden-Baden, S. 86 f.
25 Otte, Staatliche Entschädigung für Opfer von Gewalttaten in Österreich, Deutschland und der Schweiz, S. 229 ff.; Eppenstein, zitiert bei Wulfhorst, VSSR 97, S. 185.
26 Kunz, Probleme der Opferentschädigung im deutschen Recht, S. 96 in einem Zwischenergebnis, S. 99; Kessler, Die gesetzlichen Grundlagen des sozialen Entschädigungsrechts, ZfS 2001, S. 235.
27 BSG, Urteile vom 18.10.1995 – 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 – Breithaupt 1996, S. 655 ff. bzw. S. 659 ff.
28 Breithaupt 1996, S. 661.
29 BT-Drucks. 7/2506 und 11/6318.
30 BT-Drucks. 7/2506 unter „A. Zielsetzung“.
31 BT-Drucks. 7/2506 S. 20; ebenso in der Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage im Jahr 1990 in BT-Drucks. 11/6318 und 11/7969 unter l., S. 6.
32 Vgl. BT-Drucks. 7/2506, S. 20; ebenso in der Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage im Jahr 1990 in BT-Drucks. 11/6318 und 11/7969 unter l., S. 6.
33 BT-Drucks. 7/2506, S. 7 (I. Einführung, Allgemeines).
34 BT-Drucks. 7/2506, S. 7 (A), wobei wiederum das „Absinken“ der Betroffenen, ihrer Familien vermieden werden soll.
35 BT-Drucks. 7/2506, S. 7.
36 BT-Drucks. 7/2506, S. 8 (d).
37 BT-Drucks. 7/2506, S. 9.
38 BT-Drucks. 7/2506, S. 13.
39 BT-Drucks. 7/2506, S. 4.
40 In schweren Fällen kommen nach Auffassung des Gesetzgebers „beachtliche Leistungen“ zusammen, die im Prinzip einem vollen Ersatz des gesundheitlichen Schadens gleichkommen.
41 „Neben der Rente werden auch Heil- und Krankenhausbehandlungen sowie Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation gewährt“. Weitere Ausführungen hierzu befinden sich in den Materialien nicht, BT-Drucks. 7/2506, S. 11.
42 BSG, Urteil vom 7.11.1979 – 9 RVg 1/78 – BSGE 49, 98 ff. = SozR 3800 § 1 Nr. 1.
43 Fehl, in: Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl. 1992, Stuttgart, Anm. 61 zu § 1 BVG.
44 Fehl, a. a. O., Anm. 67 zu § 1 BVG.
45 Fehl, a. a. O.; soeben unter Bezugnahme auf BSG Breithaupt 1991, S. 471 ff. = SGb 1991, S. 186.
46 Klink, Die letzte, die Hilflosigkeit auslösende Ursache, in: KOV 1960, S. 102 f.
47 Stellvertretend für viele Jescheck/Weigend, a. a. O., S. 287.
48 Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Berlin, 1996, S. 260, II.
49 Vgl. Jescheck/Weigend, a. a. O., S. 289, unter 6.
50 Soeben, unter 6.
51 Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 11, Rn. 31.; Puppe, in Nomos Kommentar StGB, Baden-Baden, 4. Aufl. 2013, Vor §§ 13 ff., Rn. 125.
52 BGH, Urteil vom 9.10.2002 – 5 StR 42/02 – BGHSt 48, 34 = NStZ 2003, 149.
53 Klink, Die letzte, die Hilflosigkeit auslösende Ursachen, in: KOV 1960, S. 102 f.
54 L 13 VG 12/20.
55 BVerfG, Urteil vom 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 – BGBl I 2020, 525 (Entscheidungsformel) = NJW 2020, 905–921 (Leitsatz und Gründe) = GesR 2020, 227–252 (Leitsatz und Gründe).