I. Tatbestand (Auszug)
Die Beteiligten streiten über die Hilfsmittelversorgung mit einem Handbike.
Der am 24.2.1960 geborene Kläger ist nach einem Motorradunfall 1976 ab BWK.6/7 querschnittsgelähmt. Am 29.8.2019 beantragte er bei der Beklagten die Kostenübernahme für ein elektrisches Handbike. Er legte die Verordnung des Facharztes für Allgemeinmedizin G. vom 26.8.2019 sowie den Erprobungsbericht der S.-GmbH vom 20.8.2019 und das Angebot derselben Firma vom 21.8.2019 über ein Speedy Versatio 20 mit einem Gesamtbetrag von 8603,11 Euro vor. In dem Erprobungsbericht wird ausgeführt, der Kläger sei auf den Rollstuhl angewiesen, könne jedoch bedingt durch einen Bandscheibenvorfall im Bereich C3 und der daraus resultierenden Taubheit und nachlassender Greiffunktion den Nahbereich im Greifreifenrollstuhl ohne fremde Hilfe nicht mehr aufsuchen. Ein Rollstuhlzuggerät mit Restkraftunterstützung Speedy Versatio habe eine Schaltung verbaut. Bei entsprechendem Gelände wie Steigungen, die am Wohnort des Klägers vorhanden seien, oder bei eingeschränkter Armkraft könne der Kläger selbst die nötige Kraft, die für die Antriebsbewegung aufgebracht werden müsse, seinen Möglichkeiten anpassen. Mit diesem Rollstuhlzuggerät könne die Mobilität im Nahbereich aufrechterhalten und gesichert werden. Zu beachten sei noch, dass durch die körperliche Bewegung dem Bluthochdruck entgegengewirkt werden könne. Auf der Grundlage des Angebots erstellte die Firma S.-GmbH ferner gegenüber der Beklagten den Kostenvoranschlag vom 29.8.2019 (Versatio 20“ Grundbau, V-Koppeln mit Kettenblattgarnitur und Tretlager, ergonomische Griffe, 3/9-fach Rasterschaltungen Handbremsen für 20“, Ankoppelgriff waagerecht, Traktionshilfe).
In der Stellungnahme des MDK vom 4.9.2019 wird davon ausgegangen, dass der Kläger einen Aktivrollstuhl benutzen könne. Falls dieser für den Nahbereich nicht ausreichend sei, werde eine Begründung benötigt. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 6.9.2019 mit der Begründung ab, dass der Kläger mit dem Aktivrollstuhl für den Nahbereich ausreichend versorgt sei.
Ferner hat das Gericht das Gutachten der Neurologin Dr. R. vom 3.5.2021 erhoben.
II. Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und teilweise begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung mit dem verordneten Handbike Speedy Versatio mit Motorunterstützung entsprechend dem Kostenvoranschlag der S.-GmbH vom 29.8.2019 mit Ausnahme der Traktionshilfe.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Nicht entscheidend ist, ob das begehrte Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist, denn hierbei handelt es sich nicht um eine abschließende Regelung im Sinne einer Positivliste (vgl. BSG, Urt. v. 7.10.2010 – B 3 KR 5/10 R).
Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Versorgung mit einem Handbike Speedy Versatio mit Motorunterstützung entsprechend dem Kostenvoranschlag der S.-GmbH mit Ausnahme der Traktionshilfe liegen vor.
Ein solcher Anspruch kommt grundsätzlich zum Einen unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs der Behinderung, zum Anderen zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung in Betracht.
Der Versicherte hat im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs Anspruch darauf, dass die direkten oder indirekten Folgen einer Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder zumindest gemildert werden, soweit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist (vgl. Kass.Komm. Sozialversicherungsrecht, § 33 SGB V Rn. 12). Zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens ist die Fähigkeit zum Tätigen der Geschäfte des täglichen Bedarfs zu rechnen, wobei der Freiraum im Sinne der Bewegungsmöglichkeit bzw. Mobilität regelmäßig nur den Nahbereich umfasst (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 16.6.2020 – L 11 KR 2883/19). Hierbei geht es um kurze Spaziergänge oder die Erledigung von Geschäften des Alltags. Für die Frage der Versorgung im Nahbereich gilt ein abstrakter Maßstab (vgl. Kass.Komm. Sozialversicherungsrecht, § 33 SGB V, a.a.O., § 33 SGB V Rn. 12 b).
Insoweit ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass der vorhandene Aktivrollstuhl die Versorgung des Klägers im Nahbereich in dem beschriebenen Sinn nicht mehr abdeckt. Denn der Kläger kann dieses Hilfsmittel aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht mehr in ausreichendem Umfang nutzen. Dies ergibt sich bereits aus dem Erprobungsbericht der S.-GmbH vom 20.8.2019 sowie aus den Angaben des Klägers in der Widerspruchsbegründung. Dr. R. hat in ihrem Gerichtsgutachten ferner schlüssig dargelegt, dass dem Kläger das Antreiben des Rollstuhls zunehmend Schmerzen bereite aufgrund eines zervikalen Bandscheibenvorfalls mit ausstrahlenden Schmerzen in beide Schultern und gelegentlich auch in den linken Arm und zusätzlich bei dem Kläger ein Karpaltunnelsyndrom vorliege, was bei Rollstuhlfahrern häufig durch das kontinuierliche Antreiben des Rollstuhls vorkomme. Das Gericht geht deshalb davon aus, dass der Kläger für die Versorgung im Nahbereich anders als bisher ausgestattet werden muss. Nach der Rechtsprechung kann eine Verweisung auf einen Elektrorollstuhl in einem solchen Fall nicht grundsätzlich erfolgen (vgl. hierzu auch LSG für das Saarland, Urt. v. 21.10.2015 – L 2 KR 92/14; Hessisches LSG, Urt. v. 20.7.2006 – L 8/14 KR 376/04). Das Gericht beurteilt dies im konkreten Fall entsprechend für einen Aktivrollstuhl mit einem e-motion-Restkraftverstärker. Dabei kann offenbleiben, ob der Kläger mit einem solchen Hilfsmittel den Nahbereich tatsächlich abdecken könnte. Allerdings hat die Sachverständige Dr. R. einen e-Motion Restkraftverstärker bei der aktuellen Situation für hilfreich gehalten.
Das Gericht entnimmt jedoch dem Gutachten von Dr. R. auch, dass bei Nutzung eines Aktivrollstuhls mit einem eMotion Restkraftverstärker weiterhin die Beübung der oberen Extremitäten nicht unterstützt, sondern eher zur weiteren Einsteifung und Intensivierung der Schmerzsymptomatik bei fehlendem Training beitragen würde. Demgegenüber kommt es bei Nutzung des Handbike durch aufrechte Haltung und Aktivierung der Schultermuskulatur zu einer Beübung der Rumpf-/Bauch-/Brust- und Schultergürtelmuskulatur. Bestätigt wird dies dadurch, dass es bei dem Kläger, wie Dr. R. ausgeführt hat, nachdem das privat angeschaffte Handbike kaputtgegangen war, zu einem Abbau der Kraft der Rumpfmuskulatur kam, sodass der Kläger nicht mehr in der Lage ist, frei zu sitzen. Die beschriebenen positiven Effekte bei Nutzung des Handbikes können nicht in vergleichbarer Form bei Nutzung eines Rollstuhls mit Elektroantrieb erreicht werden (vgl. auch Schleswig-Holsteinisches LSG, Urt. v. 15.12.2011 – L 5 KR 31/10). Angesichts dieser Sachlage ist der Anspruch des Klägers nicht wegen der in Betracht kommenden wirtschaftlicheren Versorgung mit einem e-motion Restkraftverstärker ausgeschlossen.
Auch der Umstand, dass mit dem begehrten Handbike eine höhere Geschwindigkeit als die Gehgeschwindigkeit erreicht werden kann, schließt die Versorgung nicht aus. Unter Berücksichtigung einer grundrechtsorientierten Auslegung des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist der Anspruch auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nämlich nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt, sondern kommt im notwendigen Umfang in Betracht, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen. Zu berücksichtigen ist daher im konkreten Fall der Umstand, dass eine alternative Hilfsmittelversorgung zur zumutbaren und angemessenen Erschließung des Nahbereichs der Wohnung unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts des Klägers aktuell nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urt. v. 7.5.2020 – B 3 KR 7/19 R). Den von der Beklagten auf das Gutachten von Dr. R. erhobenen Einwendungen wegen der mit dem Handbike erreichbaren höheren Geschwindigkeit folgt das Gericht aus diesen Gründen nicht. Auch die Frage, ob der Kläger mit dem Handbike zusätzlich die von Dr. R. beschriebenen weiteren Vorteile der Nutzung des Handbikes etwa im Bereich sozialer Interaktion etc. erreichen kann, ist nicht entscheidungserheblich.
Offenbleiben kann damit, ob der Kläger auch zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung Anspruch auf Gewährung des Handbike Versatio hat, wobei sich aus dem Gutachten von Dr. R. sowie ihrer ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme wesentliche Gesichtspunkte hierfür ergeben. Voraussetzung hierfür ist zunächst, dass das Hilfsmittel spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird (vgl. BSG, Urt. v. 18.5.2011 – yB 3 KR 7/10 R – br 2012, 176 und BSG, Urt. v. 7.10.2010 – B 3 KR 5/10 R; Thüringer LSG, Urt. v. 28.3.2017 – L 6 KR 976/14; Hessisches LSG, Urt. v. 10.12.2015 – L KR 413/14).
Dr. R. hat überzeugend angeregt, den Einsatz des Rollstuhlzuggerätes in einen ärztlich verantworteten Therapieplan mit sowohl individuellen physiotherapeutischen Einheiten als auch muskelaufbauenden Trainingseinheiten für die Rumpf und Bauchmuskulatur zur Stabilisierung der Rumpfhaltung einzusetzen. Hierfür hat sie konkrete zeitliche Angaben gemacht. Ob eine entsprechende Umsetzung voraussichtlich erfolgen wird, steht für das Gericht noch nicht fest. Für einen Anspruch auf Gewährung eines Handbike Versatio zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung ist ferner erforderlich, dass die Maßnahme zur körperlichen Mobilisation für die gezielte Versorgung im Sinne der Behandlungsziele des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V erforderlich ist (vgl. auch BSG, Urt. v. 7.10.2010, a.a.O.). Der Kläger benötigt, wie aus dem Gutachten von Dr. R. folgt, regelmäßige Physiotherapie, wobei Dr. R. angeregt hat, die Häufigkeit der Physiotherapieeinheiten anzupassen. Dass die Physiotherapiebehandlung durch das Rollstuhlzuggerät unterstützt würde, folgt aus dem Gutachten von Dr. R. ebenso wie der geringere Nutzen der Verwendung eines Motomed. Letztlich ist die Frage, ob der Anspruch auf Versorgung mit dem Handbike auch zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung bestehen würde, aber nicht entscheidungserheblich. Denn der Kläger kann die Versorgung mit dem Handbike Versatio mit Motorunterstützung, wie bereits ausgeführt, zum mittelbaren Behinderungsausgleich von der Beklagten verlangen. Konkrete Hinweise darauf, dass der Kläger die im Kostenvoranschlag genannte Traktionshilfe zum mittelbaren Behinderungsausgleich benötigt, liegen jedoch nicht vor. Hinsichtlich des weiteren, im Kostenvoranschlag vom 29.8.2019 genannten Zubehörs, insbesondere der Motorunterstützung, sieht das Gericht keine Anhaltspunkte für eine das Maß des Notwendigen übersteigende Versorgung.
Der Kläger hat das Handbike noch nicht selbst angeschafft. Der Sachleistungsanspruch hat sich daher noch nicht in einen Kostenerstattungsanspruch umgewandelt. Die Beklagte war somit unter Abänderung des Bescheides vom 6.9.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.1.2020 zu verurteilen, den Kläger mit dem Handbike Speedy Versatio 20“ mit Motorunterstützung entsprechend dem Kostenvoranschlag der S.-GmbH vom 29.8.2019 mit Ausnahme der Traktionshilfe zu versorgen. Im Übrigen war die Klage abzuweisen. Ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass über mögliche spätere Ansprüche des Klägers auf Hilfsmittelversorgung im vorliegenden Rechtsstreit nicht zu entscheiden war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Von der Feststellung einer Kostenquote hat das Gericht abgesehen, nachdem sich der Betrag für die Traktionshilfe lediglich auf 135 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer beläuft, während der Kostenvoranschlag insgesamt 8603,11 Euro umfasst.
Anmerkung zum Gerichtsbescheid
von RA Jochen Link, Fachanwalt für Arbeitsrecht:
Zutreffend hat das SG Konstanz dem Kläger den begehrten Anspruch auf Versorgung mit einem Handbike zugesprochen. Ausgangspunkt der Entscheidung war § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Konkret ging es um den mittelbaren Behinderungsausgleich, also um den Ausgleich direkter und indirekter Folgen einer Behinderung durch das begehrte Hilfsmittel.1 Auf die Auflistung des begehrten Hilfsmittels im Hilfsmittelverzeichnis kommt es dabei nicht an.2
Beim Behinderungsausgleich muss es um Auswirkungen der Behinderung in einem Bereich gehen, der die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens betrifft.3 Hierzu zählt u.a. die Mobilität im Nahbereich.4 Entscheidend war im vorliegenden Fall, dass der vorhandene Aktivrollstuhl die Versorgung des Klägers im Nahbereich nicht mehr abdeckte, da er den Aktivrollstuhl aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht mehr in ausreichendem Umfang nutzen konnte. Das Antreiben des Aktivrollstuhls bereitete ihm aufgrund eines zervikalen Bandscheibenvorfalls mit ausstrahlenden Schmerzen in beide Schultern und gelegentlich auch in den linken Arm zunehmend Schwierigkeiten. Zudem lag beim Kläger ein Karpaltunnelsyndrom vor.
Unter Bezugnahme auf die sozialgerichtliche Rechtsprechung5 kam das Sozialgericht Konstanz deshalb in einem ersten Schritt zum korrekten Ergebnis, dass in einer solchen Konstellation eine Verweisung auf einen Elektrorollstuhl bzw. auf einen Aktivrollstuhl mit einem e-motion-Restkraftverstärker nicht grundsätzlich erfolgen kann. In einem zweiten Schritt wurde zutreffend herausgearbeitet,6 dass die beschriebenen positiven Effekte bei Nutzung des Handbikes7 bei der Nutzung eines Rollstuhls mit Elektroantrieb nicht in vergleichbarer Form erreicht werden konnten. Dadurch war der Anspruch des Klägers nicht mit dem Argument ausgeschlossen, es gebe eine wirtschaftlichere8 Versorgung mit einem eMotion-Restkraftverstärker.
Besonders erfreulich ist die Entscheidung des SG Konstanz, weil es auf die Grundrechte Bezug nimmt. Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. So verlangt das Gebot verfassungskonformer Gesetzesauslegung, „von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht“.9 Nur „wenn keine nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist“,10 ist diese verfassungswidrig, ansonsten ist bei mehreren Deutungen, die nach Wortlaut, historischer, systematischer oder teleologischer Auslegung möglich sind, die verfassungskonforme Auslegung geboten.11
Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Eine Benachteiligung aufgrund einer Behinderung ist folglich durch die Verfassung verboten.12 Hier hat, wie es vom Bundesverfassungsgericht selbst bezeichnet wurde, ein Paradigmenwechsel stattgefunden.13 Diesen Paradigmenwechsel hat auch das Bundessozialgericht in seiner Rechtsprechung verankert.14 Das Bundessozialgericht geht beim Hilfsmittelanspruch weg vom bloßen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung hin zur Anspruchsberechtigung im notwendigen Umfang,15 „wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen“.16
Diesen Paradigmenwechsel hat das Sozialgericht Konstanz aufgegriffen und argumentiert, dass auch der Umstand, dass mit dem begehrten Handbike eine höhere Geschwindigkeit als die Gehgeschwindigkeit erreicht werden kann, die Versorgung nicht ausschließt, nämlich unter Berücksichtigung einer grundrechtsorientierten Auslegung des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V.17
Der Paradigmenwechsel nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG18 geht weg vom tradierten Fürsorgeansatz mit dem Risiko der Entmündigung und Bevormundung hin zum Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung und erweitert die Verantwortung, indem nicht (nur) die benachteiligte Minderheit angesprochen wird, sondern (auch) die Mehrheitsgesellschaft sich ihrer Verantwortung stellen muss.19 Dieser Paradigmenwechsel wird und muss viele weitere Entscheidungen der Sozialgerichtsbarkeit zum § 33 SGB V und darüber hinaus prägen.
Anmerkungen
1 Becker/Kingreen/Lungstras, 8. Aufl. 2022, SGB V § 33 Rn. 19; siehe zur möglichen Aufhebung bzw. Aufweichung der Unterscheidung zwischen unmittelbarem und mittelbarem Behinderungsausgleich durch die jüngere Rechtsprechung des BSG: Becker/Kingreen/Lungstras, 8. Aufl. 2022, SGB V § 33 Rn. 18 a.
2 So das SG Konstanz zutreffend unter Bezugnahme auf das BSG-Urt. v. 7.10.2010 – B 3 KR 5/10 R.
3 BeckOK SozR/Knispel, 66. Ed. 1.9.2022, SGB V § 33 Einleitung.
4 Hierzu exemplarisch: BSG, Urt. v. 8.6.1994 – 3/1 RK 13/93 – SozR 3-2500 § 33 Nr. 7. Der Kläger im dortigen Verfahren verfügte aufgrund seiner Mehrfachbehinderung nicht über den Freiraum, der in der Regel durch einen handgetriebenen Rollstuhl eröffnet wird. Das BSG hat die Bewegungsfreiheit in dieser Entscheidung zumindest in diesen Grenzen zu den Grundbedürfnissen gezählt. Siehe zum Begriff der Mobilität u.a.: Becker/Kingreen/Lungstras, 8. Aufl. 2022, SGB V § 33 Rn. 20 m.w.N.
5 LSG für das Saarland, Urt. v. 21.10.2015 – L 2 KR 92/14; Hessisches LSG, Urt. v. 20.07.2006 – L 8/14 KR 376/04.
6 Unter Bezugnahme auf das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG, Urt. v. 15.12.2011 – L 5 KR 31/10.
7 Aufrechte Haltung und Aktivierung der Schultermuskulatur zu einer Beübung der Rumpf-, Bauch-, Brust- und Schultergürtelmuskulatur. Umgekehrt wurde dies beim Kläger durch den Abbau der Kraft der Rumpfmuskulatur bestätigt, der erfolgte, nachdem das privat angeschaffte Handbike kaputtgegangen war. Der Kläger war in der Folge nicht mehr in der Lage, frei zu sitzen.
8 „Übersetzt“ werden muss dies aus Sicht der Krankenkasse mit „billiger“ bzw. „günstiger“.
9 BVerfGE 32, 383 f. = NJW 1972, 1123; BVerfGE 93, 37 = NJW 1996, 2149.
10 BVerfG NJW 1991, 1807/1809.
11 BVerfG NJW 1991, 1807/1809.
12 BVerfG (stattgebender Kammerbeschluss) NJW 2020, 1282/1284.
13 BVerfG (stattgebender Kammerbeschluss) NJW 2020, 1282/1284.
14 BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 54 = FEVS 72, 202 – 211 = NZS 2020, 990.
15 BSG, Urt. v. 7.5.2020 – B 3 KR 7/19 R.
16 BSG, Urt. v. 7.5.2020 – B 3 KR 7/19 R.
17 Als richtigerweise nicht entscheidungserheblich hat das Sozialgericht auch die Frage eingeordnet, ob der Kläger mit dem Handbike zusätzlich weitere Vorteile der Nutzung des Handbikes etwa im Bereich sozialer Interaktion etc. erreichen kann. Da dem Kläger nach der verfassungskonformen Auslegung das Hilfsmittel bereits zum mittelbaren Behinderungsausgleich zustand, konnte auch die Frage offenbleiben, ob der Kläger auch zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung einen Anspruch auf Gewährung des Handbikes hat.
18 Ergänzt durch Artikel 20 UN-Behindertenrechtskonvention, worauf durch Nusser zurecht hingewiesen wird: Nusser, Anna: Behinderungsausgleich durch Therapiedreirad, NZS 2020, 990, die aufgrund des in Art. 20 verankerten Rechts auf persönliche Mobilität zutreffend betont, dass der Erfüllung des Grundbedürfnisses der Nahbereichserschließung besondere Bedeutung zukommt. Zu berücksichtigen ist, dass die UN-Behindertenrechtskonvention „verfassungsrechtliche Bedeutung als Auslegungshilfe für die Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes“ (BVerfG NJW 2017, 53; NJW 2020, 1282) hat. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG das auch in Art. 1 und Art. 3 Buchst. a und c der UN-Behindertenrechtskonvention zum Ausdruck kommende Ziel zugrunde liegt, „die individuelle Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie die Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderungen zu achten und ihnen die volle und wirksame Teilhabe an der und die Einbeziehung in die Gesellschaft zu gewährleisten“ (NJW 2020, 1282). Es soll Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden, „so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen“ (NJW 2020, 1282). Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erging zwar zur Auslegung des AGG. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat aber als Auslegungshilfe grundsätzlich verfassungsrechtliche Bedeutung.
19 So die zutreffenden Argumente und Hinweise des Bundesverfassungsgerichts in NJW 2020, 1282/1284.